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Riccardo Chailly dirigierte mit Maske.

© Brescia/Amisano - Teatro alla Scala

Gedenken an die Corona-Opfer in Italien: Verdis "Requiem" in Bergamo

Riccardo Chailly und das Orchester der Mailänder Scala führen die Totenmesse auf - aber nur 70 Zuhörer sind in der Kirche zugelassen.

Andrà tutto bene: Alles wird gut. Bei der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof von Bergamo erkennt man den Schriftzug auf Plakaten, die schon leicht ausgeblichen an Fenstern und Balkonen hängen.

Andere Poster sind mit roten Herzen verziert. Alles wird gut – wie ein Mantra wiederholten viele Italiener diesen Satz, als die Corona-Pandemie im Frühjahr Tausende Menschen das Leben kostete.

Als die Infektionszahlen in der Lombardei explodierten, wurde die Stadt Bergamo zum traurigen Symbol der Seuche. Die Bilder von Militärfahrzeugen, die unzählige Särge in Krematorien brachten, gingen um die Welt und brannten sich in den Köpfen fest.

Wochenlang durchbrachen nur die Sirenen der Ambulanzfahrzeuge die gespenstische Stille in den menschenleeren Straßen. Während anderenorts weiterhin auf Balkonen musiziert wurde, schwieg in Bergamo nach vereinzelten Flashmobs auch die Musik. Allmählich kehrt inzwischen das Leben zurück.

Durch die Gassen des mittelalterlichen Zentrums in den Hügeln über der Stadt schlendern bereits wieder Touristen. Die Bewohner von Bergamo werden die Krise jedoch nicht so rasch vergessen können. Fast jeder von ihnen hat in kurzer Zeit Verwandte, Freunde und Arbeitskollegen verloren.

Zum Saisonauftakt ehrt die Scala die Opfer

Ende Juni war Staatspräsident Sergio Mattarella gekommen, als auf dem Friedhof von Bergamo die „Messa da Requiem“ des 1797 hier geborenen Komponisten Gaetano Donizetti aufgeführt wurde.

Mit Giuseppe Verdis „Requiem“ wollte die Mailänder Scala nun zum Auftakt ihrer neuen Saison an die Opfer der Pandemie erinnern. Das Konzert im Mailänder Dom wurde vom Fernsehsender Arte übertragen (der Mitschnitt ist noch bis zum 20. September abrufbar).

Abseits vom großen Scheinwerferlicht traten Orchester und Chor des Opernhauses unter Leitung ihres Musikdirektors Riccardo Chailly einige Tage später in der Basilica Santa Maria Maggiore in Bergamos historischer Città Alta auf. Mit der Sopranistin Krassimira Stoyanova, der Mezzosopranistin Elina Garanca, dem Tenor Francesco Meli und dem Bass Michele Pertusi, der hier an Stelle von René Pape dabei war, bot die Scala eine Idealbesetzung auf.

Im großen Mailänder Dom waren nach den Corona-Auflagen immerhin 600 Zuschauer zugelassen. In der kleineren Basilika mit ihrem reich verzierten barocken Interieur saßen dagegen nur 70 Gäste, unter ihnen auch Vertreter der Gesundheitsbehörden und der Krankenhäuser, die in der Krise als Helden gefeiert worden waren.

Riccardo Chailly und das Orchester der Mailänder Scala in Bergamo.
Riccardo Chailly und das Orchester der Mailänder Scala in Bergamo.

© Brescia/Amisano - Teatro alla Scala

Nicht zuletzt durch die Nähe des Publikums zu den Künstlerinnen und Künstlern wurde der Abend in Bergamo zu seinem besonders eindrücklichen Erlebnis. Da die Zahl der Mitwirkenden etwa doppelt so hoch war wie die der Zuhörer in der Kirche, wird die Aufführung wohl allen als singulär im Gedächtnis bleiben.

Als der links und rechts vom Orchester im Querschiff platzierte Chor sachte requiem aeternam dona eis, Domine sang, war die große physische Präsenz der Musik gleich zu Beginn spürbar.

Auch die Sequenz dies irae, dies illa wirkte in dieser Umgebung viel ergreifender als in einem normalen Konzertsaal. Man fühlte sich daran erinnert, dass Verdis Werk 1874 in einem sakralen Raum, nämlich der Chiesa di San Marco in Mailand, uraufgeführt worden war,

Die beleuchtete Apsis von Santa Maria Maggiore erstrahlte in einem nahezu überirdischen Blau. Dass alle Mitwirkenden den vorgeschriebenen Abstand zueinander einhielten, wurde den Zuhörern kaum bewusst. Ebenso wie die Musiker trug Dirigent Riccardo Chailly während der gesamten Aufführung einen schwarzen Mund-Nasen-Schutz mit Scala-Logo.

Das Publikum wird vom Klang umfangen

Im Vergleich zum Mailänder Dom mit seinen riesigen Ausmaßen erschien die Basilika in Bergamo als geeigneterer Aufführungsort, an dem das Publikum vom Raumklang gewissermaßen umfangen wurde. Fein verwoben sich die Stimmen von Sopran, Mezzosopran und Chor im agnus Dei. Eindringlich brachte Krassimira Stoyanova schließlich im libera me die Sehnsucht des Menschen nach Erlösung zum Ausdruck.

Mit dem Verdi-Requiem gastierte die Scala auch in der von der Corona-Pandemie schwer getroffenen Stadt Brescia. In vielen Städten war Musik bereits den ganzen Sommer über zu erleben gewesen. Den Anfang machte im Juni das Ravenna Festival mit Riccardo Muti. Andere Festivals, beispielsweise in Macerata, Pesaro und Martina Franca, zogen nach.

Beim Kammermusikfestival Trame Sonore in Mantua waren erst kürzlich an historischen Orten wie dem Palazzo Ducale, dem Palazzo Te und dem Teatro Bibiena viele über den ganzen Tag verteilte Konzerte zu erleben. Noch vor wenigen Monaten hätte wohl kaum jemand damit gerechnet, dass in Italien schon kurz nach dem Ende des strikten Lockdowns sogar wieder Opernaufführungen stattfinden könnten.

Überall in Italien finden wieder Festivals statt

In Bergamo ist im November und Dezember die nächste Ausgabe des Festival Donizetti Opera geplant. Auf dem Programm stehen dann vier Opern des Komponisten, der in der Stadt geboren wurde und 1848 dort auch starb. Am Eröffnungsabend, dem 19. November, wird Placido Domingo in einer konzertanten Aufführung von „Belisario“ auftreten. Neben der berühmten „Fille du régiment“ kommen auch unbekanntere Werke wie „Le nozze in villa“ auf die Bühne.

In einer ehemaligen Zisterne in der Altstadt von Bergamo wird in der Zwischenzeit die Lichtinstallation eines lokalen Künstlers gezeigt. „E quindi uscimmo a riveder le stelle“ ist in großen Lettern in einem Schaufenster unter einem alten Bogengewölbe zu lesen. Mit dem Satz „Dann grüßten wir beim Austritt neu die Sterne“ endet die Höllensequenz in Dantes „Göttlicher Komödie“. Auf ihrer Jenseitswanderung treten Vergil und Dante aus dem Dunkel hervor und sehen am Himmel ein Licht der Hoffnung. Ein Signal der Zuversicht, das wohl von allen Menschen in Bergamo verstanden wird, die nach monatelanger Ausgangssperre endlich wieder auf die Straße gehen können.

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