zum Hauptinhalt
Francesca Ciaffoni in Mario Goeckes "Nijinski"-Choreografie.

© Regina Brocke

Gauthier Dance in Berlin: Zum Verzücktwerden

Im Haus der Berliner Festspiele zeigt das Stuttgarter Ensemble Gauthier Dance Mario Goeckes „Nijinski“-Abend

Von Sandra Luzina

Ihrem Berlin-Debüt hat das Stuttgarter Tanzensemble Gauthier Dance regelrecht entgegengefiebert. Der künstlerische Leiter Eric Gauthier ließ es sich nicht nehmen, selbst kurz aufzutreten. 11 Jahre habe er darauf gewartet, mit seiner Compagnie endlich in Berlin auftreten zu dürfen, sagte er mit augenzwinkerndem Pathos. Und gab dann eine charmante Einführung in das Ballett „Nijinski“, das bei der Uraufführung 2016 in Stuttgart mit Standing Ovations gefeiert wurde. Marco Goecke, damals noch Haus-Choreograf am Stuttgarter Ballett, wollte unbedingt mit Gauthier Dance ein Stück über die Tanzikone Waslaw Nijinski erarbeiten.

Genie und Wahnsinn – bei Nijinski lagen sie tatsächlich nah beieinander. Der Star der legendären Ballets Russes wurde als „Gott des Tanzes“ verehrt, sein „Sacre du Printemps“ provozierte bei der Uraufführung 1913 in Paris einen Skandal. 1919 wurde bei ihm Schizophrenie diagnostiziert, sein restliches Leben verbrachte er in psychiatrischen Sanatorien und Pflegeheimen. Marco Goecke zeigt in dem Ballett seine ganz persönliche Sicht auf den Jahrhunderttänzer. Er hat erst gar nicht versucht, eine vertanzte Biografie zu kreieren, obwohl er sich an den Stationen von Nijinskis Leben orientiert.

Die Tänzer schrauben sich sofort in höchste Erregung

Im Prolog stürmt eine zuckende Gestalt mit verhülltem Gesicht auf die schwarz ausgeschlagene Bühne des Festspielhauses. Sie symbolisiert das Gären des Neuen. Sergej Diaghilew, der geniale Impresario der Ballets Russes, schließt einen Pakt mit Terpsichore, der Muse des Tanzes. Das könnte leicht in Kitsch abgleiten, doch Goecke hält dagegen mit seinem minimalistischen, hypernervösen Bewegungsidiom. Die Tänzer schrauben sich gleich in höchste Erregung. Wie heftige Entladungen wirken die rhythmisch zerhackten Armbewegungen.

Wenn Rosario Guerra, der dem Nijinski eine dunkel-glühende Intensität verleiht, die Bühne betritt, wird gleich klar: Dies ist sein Abend. Wie er der inneren Zerrissenheit Nijinskis Ausdruck verleiht, ist ergreifend. Zu Musik von Chopin flattert er nervös mit den Armen, seine Hände erzittern, sein Körper erbebt, zwischen Verzückung und Verstörung oszilliert dieser Tanz in den Wahnsinn. Neben Diaghilew, dem Entdecker und Liebhaber Nijinskis, lässt Goecke auch die polnische Mutter Matka, den Freund Isajef und die spätere Ehefrau Romola auftreten. Manchmal reicht Goecke eine prägnante Geste, um die Beziehungen zu charakterisieren, aber nicht alle Duette überzeugen.

Choreograf Goecke gelingen betörende Bilder

Wunderbar, wie Goecke die zentralen Rollen Nijinskis andeutet und sich dabei die Ästhetik der Ballets-Russes einverleibt. Mit weißem Flatterkragen wird Guerra zum traurigen Petruschka, der eine Clownsträne verdrückt. Nijinskis Auftritt als lüsterner Faun schockierte damals das Publikum. Bei Goecke wird daraus ein verführerisches Männerduett zu Debussys „L’ après-midi d’un faune“. Rosario Guerra und Luke Prunty lassen zuerst ihre Zungen spielen und werden dann handgreiflich. Später regnen Rosenblätter auf die Bühne, eine Reminiszenz an „Le Spectre de la Rose“.

Immer wieder gelingen Goecke betörende Bilder, doch er versteht es auch, das Ballett dramatisch zuzuspitzen. Am Ende trägt Nijinski Goldschuhe, die ihn regelrecht an den Boden nageln. Das Schlussbild zeigt, wie der schizophrene Tänzer manisch Kreise auf den Bühnenboden zeichnet. Phänomenal, mit welcher Präzision und Ausdruckskraft die Tänzer sich den Goecke-Stil zu eigen machen. Wie sie den Formenkanon des klassisch-akademischen Tanzes immer wieder aufsprengen und dem Ballett zugleich mit Libellenflügeln ihre Reverenz erweisen. Aber es ist die aufwühlende Darstellung von Rosario Guerra, die den Abend zum Ereignis macht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false