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Karneval in Rom. Bei John Eliot Gardiner tritt der Monteverdi Choir nicht nur singend in Aktion.

© Adam Janisch

Gardiner beim Musikfest Berlin: Die romantische Revolution

Das Musikfest Berlin eröffnet mit einer halbszenischen Aufführung von Berlioz’ Oper „Benvenuto Cellini“ unter Leitung von John Eliot Gardiner.

Dieses Festival ist nichts für schwache Nerven, und das gilt zu allererst für den Veranstalter, die Berliner Festspiele. Denn so schlagend die Idee ist, den Saisonauftakt der Berliner Orchester zusammen mit internationalen Gast-Ensembles zu feiern und dabei hintersinnig ausgelegten dramaturgischen Fährten folgen zu können – an den Vorverkaufskassen ist das Musikfest Berlin ein notorischer Spätzünder. Die Besucher können meist zur Abendkasse schlendern und sich spontan für Programme entscheiden, die sie derart angespitzt selten in Abo-Konzerten erleben. In diesem Jahr liegen die Schwerpunkte auf dem Klangrevolutionär Hector Berlioz, aber auch auf den Zeitgenossen Helmut Lachenmann, Olga Neuwirth und Louis Andriessen.

Die schwer berechenbare Gleichung aus Wagnis und Zugänglichkeit bis zur letzten Minute – ganz anders als bei der exklusiven Saisoneröffnung der Berliner Philharmoniker – trägt mit zum Charme des Musikfests bei. Nach einem nächtlichen Vorspiel, bei dem sich der Pianist Pierre-Laurent Aimard nimmermüde durch den „Catalogue d'Oiseaux“ von Olivier Messiaen tschilpt und tiriliert, bietet der Eröffnungsabend einen wahren Theatercoup. Musikfest-Chef Winrich Hopp ist es gelungen, erneut John Eliot Gardiner in die Philharmonie zu locken, zum allerersten Mal an der Spitze seines Orchestre Révolutionnaire et Romantique.

Wie konnte es nur geschehen, dass dieses leuchtende Ensemble erst zum 30. Geburtstag sein Berlin-Debüt feiert? Für den Berlioz-Schwerpunkt des Musikfests jedenfalls kann es keine bessere Wahl geben. Denn die Gründung des Orchestre Révolutionnaire et Romantique war maßgeblich davon inspiriert, die selbst in Frankreich weitgehend in Vergessenheit geratenen Werke des Komponisten wieder aufzuführen – und zwar so, wie er sie erdacht hat. Selbst in der modernen Orchesterlandschaft ausgestorbene Instrumente wie der archaische Tuba-Vorläufer Ophikleide wurden dafür ausgegraben.

Neue Räder und Wellen für die Orchestermaschine

Das ist kein archäologischer Spleen, schon gar nicht bei Berlioz. Er erweiterte die Maschine, wie er das Orchester nannte, um viele neue Räder und Wellen, Federn und Bolzen. „Jeder vom Komponisten verwendete klingende Körper ist ein musikalisches Instrument“, lautete das Credo, mit dem er die Klangwelt revolutionierte. Lange galt seine als Buch veröffentlichte Instrumentationslehre als seine einflussreichste Komposition, verbunden mit dem Vorbehalt, Berlioz könne Musik großartiger denken als tatsächlich in Noten niederschreiben. Gardiner wollte das so nicht hinnehmen, sein forschender Widerspruchsgeist war geweckt. Mit dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique startete er die Ehrenrettung eines Komponisten, der oft missverstanden wurde und bei allem romantischen Überschwang letztlich ein Einsamer blieb. Mit einer halbszenischen Aufführung seiner ersten Oper „Benvenuto Cellini“ kehrt Berlioz in der Philharmonie zurück ins pralle Leben.

Rom inmitten des Karnevals. Die Ouvertüre, stehend gespielt, gleicht einem Erdbeben. Im Schmettern und Meckern, Rempeln und Drängen, Singen und Grölen steht eine Welt Kopf und die Menschen mit ihr. Im Mittelpunkt wankt der Bildhauer Benvenutu Cellini, dessen historisches Vorbild einen unfassbar wüsten Bericht des eigenen Lebens hinterlassen hat.

An Cellinis Händen klebt Blut

Bei Berlioz muss sich der ungestüme Künstler gegen reaktionäre Väter, opportunistische Kollegen, unterbezahlte Hilfskräfte und sogar den Papst persönlich durchsetzen. Dabei klebt an Cellinis Händen Blut, er ist in den letzten Minuten des Karnevals zum Mörder geworden. Retten kann ihn nur die rückhaltlose Konzentration auf seine Kunst, die im urgewaltigen Guss der berühmten Perseus-Statue gipfelt. Danach bekommt das Genie alles: Absolution, Liebe, Glorienschein. Berlioz konnte davon nur träumen.

Auch Musikerinnen und Musiker wie die des Orchestre Révolutionnaire et Romantique wird er wohl nur mit dem inneren Ohr gehört haben. Der Attacke dieses verschworenen Ensembles kann man sich nicht entziehen. Die alten Blasinstrumente schmettern früher als ihre fetten Nachfolger, man kann mit ihnen selbst im roten Bereich noch recht transparent musizieren – und Gardiner macht davon reichen Gebrauch.

Die Energie des 76-Jährigen scheint endlos, jeder Faden wird fortgesponnen, jedes Klangbild neu abgemischt. In der Philharmonie entfaltet sich das alles prächtig. Durch wenige Gänge verwandelt sie sich zur Opernbühne für den fulminanten Monteverdi Choir und Tenor Michael Spyres in der Titelrolle, der Grenzen ebenso wenig scheut wie Berlioz. Doch er ist nur die Spitze einer Besetzung, die sich geschlossen in einen ironisch gekonterten Furor wirft. Großer Jubel – und alle Vorverkaufskassen offen. Ulrich Amling

Das Musikfest Berlin geht bis zum 19.9., mehr unter www.berlinerfestspiele.de

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