zum Hauptinhalt
Mächtige Kreatur. Gil Shachar vor seiner Walskulptur.

© Katharina Behling

Gallery Weekend in Berlin: Auge in Auge mit der Schöpfung

Der israelische Künstler Gil Shachar zeigt zum Gallery Weekend den Abguss eines toten Wals in St. Elisabeth. Zehn Jahre hat er daran gearbeitet.

Die Schinkelkirche St. Elisabeth in Mitte strahlt mit ihrem alten Säuleneingang Erhabenheit aus. Seit den 90ern wird sie nur noch zu kulturellen Zwecken genutzt, zum Gallery Weekend zeigt die Galerie Semjon Contemporary dort eine kolossale Skulptur: In der Mitte der feierlichen Architektur ist scheinbar ein toter Wal angespült worden.

Sonnenstrahlen fallen durch die hohen Kirchenfenster und in Streifen auf den riesigen leblosen Körper. Als wäre der Wal in eine Lichtaura getaucht. Ein monotoner Singsang füllt den Raum, lässt an Walgesänge aber auch an Kirchenchöre denken. Der Sprechgesang ist von John Cage und heißt „Litany for the Whale“. Wird hier ein Wal beerdigt?

Tatsächlich handelt es sich um einen 14 mal 9 Meter großen Abguss eines toten Buckelwals, der auf dem Rücken liegt. Der große Kehlsack fällt schlaff zur Seite, verdeckt das Maul. Vergeblich sucht man nach den Augen. Der Wal ist männlich, das ist unübersehbar. Sein Gemächt ähnelt einer Flosse, so groß und prominent ragt es aus der Mitte des Tierleibs. Der israelische Künstler Gil Shachar, der in Duisburg lebt und arbeitet, hat die Skulptur geschaffen.

„Ich habe von einem gestrandeten toten Wal geträumt. In dem Traum formte ich diesen Wal ab und machte eine Skulptur daraus,“ erzählt Shachar. Der Traum ist so intensiv, dass er nach dem Erwachen sofort eine Skizze seiner Vision anfertigt. Der Gedanke lässt ihn nicht mehr los und er beginnt zu recherchieren.

Er stößt auf Gegenden in Südafrika, wo auffällig viele Wale an den Strand gespült werden. Die südafrikanische Regierung und Umweltschützer versuchen diese tragischen Unfälle zu verhindern, mit nur mäßigem Erfolg, da man die genauen Ursachen nicht kennt. Shachar reist nach Kapstadt und verhandelt mit dem Umweltministerium. Dort ist man nicht gewohnt, mit Künstlern zu kommunizieren. Umweltaktivisten, ja, Filmleute, auch, aber Künstler?

Die eigentliche Arbeit beginnt in Kapstadt

Shachar bleibt hartnäckig und am Ende genehmigen ihm die Behörden eine Abformung eines Buckelwals. Er solle sich auf Standby halten. Sobald ein toter Wal angespült wird, würde man ihn informieren. Also bereitet Shachar alles vor. Er stellt vor Ort ein Team von Künstlern zusammen, die sich in der Abgusstechnik auskennen. Und er startet eine Crowdfunding-Aktion, um das Projekt zu finanzieren.

Zwei Jahre vergehen, bis im August 2018 der erhoffte Anruf kommt. Shachar setzt sich sofort in den Flieger und ist am nächsten Tag an der Lambert’s Bay in Südafrika. Zehn Leute stehen ihm zur Seite, um jede Pore, jede Falte, alle Narben und Unebenheit des Kadavers akribisch abzuformen. Sie müssen schnell arbeiten ehe die Wellen den schlaffen Körper wieder ins Meer zurückspülen. Zweieinhalb Tage brauchen sie für die Abformung. Die eigentliche Arbeit beginnt danach in einer Werkstatt in Kapstadt. Ein Video im Kirchenraum dokumentiert den aufwendigen Prozess.

[Alle wichtigen Updates des Tages finden Sie im kostenlosen Tagesspiegel-Newsletter "Fragen des Tages". Dazu die wichtigsten Nachrichten, Leseempfehlungen und Debatten. Zur Anmeldung geht es hier.]

Eine Metallkonstruktion trägt Schichten von Glasfasermatten, Epoxidharz und Polyurethan. Aus dem Bauch des Wals heraus arbeitet sich der Künstler an die Oberfläche, die über die Hohlformen 1:1 auf die Skulptur übertragen wird. Das Werk bringt etwa 600 Kilogramm auf die Waage. Am Ende wird der Wal mit einer anthrazitgrauen Farbe überzogen. Der ganze Prozess – vom Traum bis zur Vollendung – hat insgesamt zehn Jahre gedauert.

Abgesehen von ihrer schieren Größe und der Beharrlichkeit des Künstlers liegt der Reiz dieser Arbeit in der besonderen Qualität der Begegnung, die sie ermöglicht. Seit jeher fühlen wir Menschen uns zu Walen hingezogen, sind fasziniert von ihrer unfassbaren Größe, ihrer Friedlichkeit, ihrer sozialen Kompetenz und den dunklen Tiefen, in denen sie sich anmutig langsam und scheinbar zeitlos bewegen.

Man kommt dem Wal sehr nahe

Gleichzeitig flößen sie uns Respekt und Furcht ein. Der Ozeanriese ist in zahlreichen Mythen und Geschichten gegenwärtig, Jona im Bauch des Wals und Moby Dick sind nur zwei prominente Beispiele. Trotz Wal-Tourismus mit Whalewatching-Touren bleiben wir immer auf Distanz zu unseren Sehnsuchtswesen.

[Schinkelkirche St. Elisabeth, Invalidenstr. 3, bis 14. Mai, Offene Kirche, täglich von 11–20 Uhr, ohne Anmeldung]

In der Elisabethkirche kommt man dem Wal sehr nah. So nah, dass man ihn nicht mehr als Ganzes in den Blick nehmen kann. Stattdessen sieht man Schrammen und Verletzungen der Haut, die von Kämpfen unter Wasser zeugen. Man spürt das Alter des Tieres, Konzepte von Größe und Dauer werden herausgefordert. Die stumpfe monochrome Bemalung hilft, den Wal abstrakt zu betrachten.

Als bloße Repräsentation eines mächtigen Tieres verhindert die Skulptur eine allzu große Traurigkeit, die uns in Anbetracht des Todes überkommen müsste. Und auch der Verweis auf den menschlichen Raubbau an Natur, Tieren und Umwelt spielt für Shachar nur eine untergeordnete Rolle. Der Wal bedeutet für ihn vor allem eines: Freiheit.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false