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Wegbereiterin der Oral History. Annemarie Tröger (1939 - 2013).

© privat

Frühphase des Feminismus: Das revolutionäre Subjekt Frau

Was schon vor 50 Jahren gärte: Ein Aufsatzband erinnert an die feministische Pionierin Annemarie Tröger.

Eigentlich wollte sie Berufsrevolutionärin werden. Klingt heutzutage eigenartig, war jedoch einmal ein akzeptierter Lebensentwurf für eine politische Aktivistin, als die sich Annemarie Tröger verstand. Ein „selbstgezimmertes Vehikel“ nannte sie das rückblickend, nachdem die 1939 auf einem Rittergut nahe Apolda in Thüringen geborene Psychologin und Soziologin 1975 die USA in Richtung Deutschland wieder verließ, „ohne Partei und Bezahlung und ohne ‚Vaterland’.“ Da lagen bereits ein Systemwechsel von Ost nach West, ein Studium unter anderem bei dem Anthropologen Helmuth Plessner und über ein Jahrzehnt „Bewegung“ hinter ihr, in den Staaten und im SDS, dessen „Brüderhorde“ sie trotz ihres feministischen Engagements verbunden blieb.

Der Name dieser ungewöhnlich attraktiven, klugen und streitbaren Frau ist heute nur noch denen erinnerlich, dieTrögers Wirken im Rahmen der aufkommenden feministischen Forschungsanstrengungen begleitet haben. Denn als linke Intellektuelle ohne akademische Verankerung blieben ihre Denkansätze Stückwerk, verstreut in oft nicht mehr greifbaren Publikationen.

Drei der jüngeren Wegbegleiterinnen, inzwischen selbst im Rentenalter, haben einige dieser zwischen 1970 und 1990 entstandenen Texte der 2013 Verstorbenen nun in einem ungewöhnlichen Band zusammengestellt und den „Kampf um feministische Geschichten“, so der Titel, für Nachgeborene zugänglich gemacht. Ungewöhnlich ist das Konvolut, weil die Herausgeberinnen für jedes dieser Dokumente eine mit Tröger einschlägig verbundene Forscherin eingeladen haben, es aus mehr oder weniger persönlicher Perspektive zu kommentieren und zeit- und wissenschaftshistorisch zu verorten.

[Annemarie Tröger: Kampf um feministische Geschichten. Texte und Kontexte 1970-1990. Hg. von Regine Othmer, Dagmar Reese und Carola Sachse. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 432 Seiten, 39 €.]

Tröger war schon früh eine Vielreisende, die in mindestens drei Sprachen schrieb (einige Texte und Kommentare sind im englischen Original abgedruckt). Im Rahmen eines ersten längeren Studienaufenthalts in den USA besuchte sie 1970 auch das kolumbianische Medellin – damals noch kein globales Drogenumschlagszentrum –, wo sie Gespräche mit den dort lebenden Slumbewohnern und lateinamerikanischen Befreiungstheologen führte.

Kolumbianische Befreiuungskämpfe

Das daraus entstandene Rundfunkfeature für den WDR vermittelt nicht nur ein außerordentlich lebendiges Bild von den katastrophalen Existenzbedingungen der Einheimischen, sondern zeugt auch von den – vielfach enttäuschten – Hoffnungen, die sich mit dem „Befreiungskampf der Völker der Dritten Welt“ verknüpften. Gleichzeitig polemisiert die versierte Theoretikerin gegen die „bürgerliche“ Soziologie und deren Akkulturationstheoreme.

Die Frage nach dem „revolutionären Subjekt“ und der Avantgarde wird in Trögers späteren Texten immer wieder virulent, etwa im Essay über die Coalation of Labor Union Women (CLUW), ihren Forschungen über Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus und in der retrospektiven Studie über die Studentenbewegung, die sie 20 Jahre nach1968 zusammen mit Mitstreiterinnen aus aller Welt erstellte, darunter der Historikerin Luisa Passerini, die an die Entstehungsgeschichte erinnert.

Gleichzeitig grenzt sich Tröger früh ab von den liberalen Strömungen des Feminismus und deren Vereinseitigung der „Frauenfrage“, indem sie immer wieder die „Klassenlagen“ (und ethnische Aspekte) ins Spiel brachte, ohne das feministische Anliegen auf einen „Nebenwiderspruch“ zu verkürzen. Race, Class and Gender war eine gängige analytische Denktrias der damaligen Zeit und wurde nicht erst, wie es heute anmutet, von den universitären „Studies“ in Form der „Intersektionalität“ entdeckt, worauf die Ökonomin Ingrid Kurz-Scherf aufmerksam macht. Als Staatssekretärin von Regine Hildebrandt in Brandenburg hat sie Tröger kurzzeitig als Referentin beschäftigt.

Die feministische Szene, in die die job- und politisch heimatlose, nicht mehr ganz junge Wissenschaftlerin nach 1975 in Berlin eintauchte, war zerstritten, aber beseelt vom Willen zu neuer Erkenntnis. Durch ihre Erfahrung mit lebensgeschichtlichen Interviews ergatterte Tröger, zusammen mit Tilla Siegel, einer weitere Kommentatorin, eine der wenigen Assistentenstellen am ZI 6 der FU und legte im Bereich „Vergleichende Faschismusforschung“ den Grundstein für die Oral-History-Bewegung in Deutschland.

Auftrag Empowerment

Subjektorientiertes Erkenntnisinteresse und der Wunsch, die „Objekte“ der Geschichte zu „empowern“, wie das heute hieße, entwickelte sich eine viel diskutierte Methode. Zwei spannende, heute noch mit Gewinn zu lesende Texte, die Interviewbearbeitung mit der Berliner Antifaschistin Hilde Radusch und das Resümee des nie zu Ende geführten Geschichtsprojekts im Charlottenburger Danckelmann-Kiez, sind von dieser Emphase geprägt. Die mit hohem moralischem Anspruch verbundene Methode, räumt Dagmar Reese ein, war für den wissenschaftlichen Alltag allerdings nicht tauglich.

Pionierin war Annemarie Tröger auch als Mitinitiatorin der Berliner Sommeruniversitäten ab 1977. Dort reüssierte die Nicht-Historikerin mit einem Vortrag, der auch über den feministischen Dunstkreis hinaus Widerhall fand. Mit der provokativen Frage, ob Frauen Hitler an die Macht gebracht hätten, trat sie insbesondere linken Narrativen entgegen, wonach weibliche Wahlentscheidungen den Aufstieg der Nationalsozialisten forciert hätten.

Diese „Kampfschrift“, wie Carola Sachse den Text nennt, tappte hinsichtlich der Auswertung der Wahlen der späten Weimarer Jahre damals zwar ebenso im Dunkeln wie die Versuche aus der männlichen Zunft. Sie war aber auch, so die erhellende Analyse, weniger auf die Vergangenheit gerichtet als auf die Positionierung von Nachwuchsakademikerinnen mit ungewisser Zukunft, die nach Bündnispartnerinnen Ausschau hielten.

Später entdeckte Tröger die Psychoanalyse (wieder) für sich und war therapeutisch tätig. Dass ihr die Meriten ihres bewegten Lebens, das Regine Othmer in einer biografischen Skizze nachzeichnet, vorenthalten blieben, hat Gründe, die in ihrer nicht einfachen Persönlichkeit lagen, aber vor allem an den Umständen, unter denen sie aktiv war und forschte. Ihr wegweisendes Kiezprojekt etwa wurde vergessen, während das später in Essen realisierte LUSIR-Projekt, das ebenfalls lebensgeschichtlich orientiert war, als Impulsgeber für die Oral Historians in Deutschland gilt.

Zusammen mit den namhaften Kommentatorinnen vermitteln die Herausgeberinnen jedenfalls eine Ahnung von der Aufbruchstimmung einer Zeit, in der Theorie und Praxis noch zusammengedacht wurden und Feminismus sich nicht darin erschöpfte, die Karriereleiter emporzuklettern und Claims abzustecken.

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