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Kein Zutritt. Spielplatz in Nordrhein-Westfalen, 30. April.

© Roland Weihrauch/dpa

Früherer Theater-Chef zur Coronakrise: „Wir sind ein Land, das furchtbar gerne gehorcht“

Als Leiter des Grips-Theaters hat er sich wie wenige um Kinder und ihre Bedürfnisse gekümmert: Volker Ludwig über Spielplätze und die Deutschen in der Krise.

Volker Ludwig, geboren 1937, leitete seit 1969 das GRIPS-Theater für Kinder. Vor zwei Jahren übergab er es an Philipp Harpain. Heute ist er noch Geschäftsführer und Autor des Hauses.

Volker Ludwig, finden Kinder gegenwärtig genug Beachtung?
Nein, überhaupt nicht. Ich finde es unmöglich, dass sie wochenlang nicht miteinander spielen durften, dass die Spielplätze geschlossen waren. Schlimm genug, dass man sie von Risikomenschen wie ihren Großeltern fernhalten muss. Aber warum sie untereinander keinen Kontakt haben sollen, ist eigentlich nicht einzusehen. In anderen Ländern ist es ja noch viel schlimmer. In Frankreich oder Spanien durften die Kinder bis vor kurzem nicht mal vor die Tür.

Zuletzt hat man sich auch bei uns an Ihr Stück „Balle, Malle, Hupe und Artur“ von 1971 erinnert gefühlt: Nirgends Platz für Kinder und überall keifende Nachbarn…
Als ich „Balle, Malle, Hupe und Artur“ geschrieben habe, war die Situation natürlich eine andere. Damals gab es einfach nicht genug Spielplätze, weil man sich um Kinder nicht groß geschert hat. Sie mussten sich ihre Räume selbst erobern, wie das leerstehende Haus, das im Stück zum heimlichen Treffpunkt wird. Jetzt gäbe es ja Spielplätze. Wir sind eigentlich gut ausgestattet…

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Nur werden Kinder plötzlich nicht nur als Krachmacher, sondern als Gefahr gesehen. In den vergangenen Wochen konnte man etliche Fälle erleben, in denen wegen spielender Kinder die Polizei gerufen wurde. Ist das die Rückkehr der Hausmeister-Republik?
Diese Haltung von vielen Erwachsenen, sofort denunziatorisch einzuschreiten, die erinnert mich tatsächlich an die alten Zeiten. Das ist offenbar nicht auszurotten. Da kommt diese urdeutsche Blockwart-Mentalität wieder hoch. Das denke ich auch, wenn ich lese, dass eine Monika Maron ihr Haus in Mecklenburg-Vorpommern nicht mehr betreten darf, wo sie seit vielen Jahren arbeitet.

Diese Blockwart-Mentalität hatte man doch eigentlich für überwunden gehalten.
Wir haben ja vieles für überwunden gehalten nach der 68er-Zeit. Was die Kinderrechte betrifft, hat sich auch wahnsinnig viel getan, Deutschland ist sehr viel fortschrittlicher und liberaler geworden.

Ich kann mich noch erinnern, wie normal es war, dass Kinder in den Geschäften erst nach allen Erwachsenen bedient wurden. Zum Essen sind wir nur zum Italiener gegangen, weil in allen anderen Restaurants Kinder allenfalls naserümpfend geduldet wurden.

Hintergrund-Informationen zum Coronavirus:

Aus der 68er-Bewegung sind auch die Kinderläden entstanden, die gerade als mutmaßliche Virenschleudern in der Diskussion stehen. Inklusive Schlagzeilen wie „Jede Kita ist ein potenzielles Ischgl“…
Ich begreife nicht, dass man sich nicht als Erstes um die Frage gekümmert hat, was macht man, wenn die Kitas zu sind? Es gibt ja eine Notbetreuung, aber die müsste man mehr ausweiten.

Was ist mit den vielen alleinerziehenden Müttern, die sie am dringendsten brauchen, die aber nicht alle in den sogenannten systemrelevanten Berufen arbeiten? Was ist mit den Kindern und Jugendlichen, die auf das Schulessen angewiesen sind? Das alles wurde überhaupt nicht geklärt.

Glauben Sie, so etwas wirkt gesellschaftlich nach?
Ich kann nur hoffen, dass man daraus einmal lernen wird, wenn die Krise vorbei ist. Dass man die Gefahr erkennt, wie schnell Errungenschaften auch wieder kippen können. Manche Leute glauben ja, wir werden eine neue Gesellschaft erleben, in der wir alle mehr aufeinander achten.

Natürlich gibt es viele Beispiele von Solidarität unter Nachbarn, auch bei uns im Haus. Aber daraus die Hoffnung auf eine gerechtere Welt abzuleiten? Ein paar Hilfsbereite und Vernünftige hat es immer gegeben.

Wie geht es Ihnen mit der Einschränkung der Grundrechte?
Man kann vieles akzeptieren, aber dieser totale Konsens, der zu Beginn geherrscht hat, von den Grünen bis zur AfD, hat mich doch skeptisch gemacht.

Sofort sind die Umfragewerte für die Hardliner hochgeschossen, am beliebtesten ist immer noch Herr Söder – das ist schon sehr merkwürdig. Dass die Politiker sich jetzt andauernd bei den Bürgerinnen und Bürgern für ihr braves Mitmachen bedanken, ist jedenfalls überflüssig. Wir sind ein Land, das furchtbar gerne gehorcht.

Daran hat 68 nichts geändert…
Einen echten Schock habe ich bekommen, als zum ersten Mal diese Hassfressen der Pegida-Leute aufgetaucht sind, die mit Schaum vorm Mund brüllten, dass die Merkel aufgehängt werden müsse. Das waren genau so hassverzerrte Gesichter wie damals, als es hieß: Dutschke an den Galgen. Was vom Staat seinerzeit noch gefördert wurde. Keine Ahnung, warum das nach 50 Jahren plötzlich wieder hochgekocht ist.

Ohne Abstandsregeln. Freunde treffen und herumtollen – danach sehnen sich viele Kinder im Moment.
Ohne Abstandsregeln. Freunde treffen und herumtollen – danach sehnen sich viele Kinder im Moment.

© Thilo Rückeis TSP

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Droht uns ein neuer Generationenkonflikt? In Texas hat der Vize-Gouverneur schon gefordert, die Alten sollten zum Wohle der Wirtschaft abtreten. Was denken Sie, wenn Sie so was lesen?
Erstmal hält man sich selbst ja gar nicht für alt. Wenn ich in ein Restaurant gehe, in dem lauter 50- und 60-Jährige sitzen, denke ich sofort: Oh Gott, nur alte Leute hier (lacht). Eine solche Diskussion wie in Texas traut sich bei uns ja niemand zu führen, im Moment jedenfalls nicht.

Aber es gibt natürlich Politiker, die so tun, als beträfe Corona nur die Alten, die sowieso bald sterben. Was ja nachweislich nicht stimmt.

Welche Erinnerungen haben Sie an die eigene Kindheit?
Den Krieg erlebt zu haben, das prägt einen Menschen. Ich freue mich noch heute, wenn ich ins Bett gehe und Licht von der Straße ins Zimmer fällt. Das hängt mit der Verdunkelung zusammen, die während der Bombennächte in der Nazidiktatur befohlen war. Meine Mutter hat damals zu mir gesagt: „Im Frieden leuchten die Straßenlaternen so hell, dass man Zeitung lesen kann.“ Das war für mich ein Märchen.

Wie war es nach Kriegsende?
Wir sind 1948 nach Hamburg gezogen, da war ich zehn Jahre alt. Das Kriegsende war etwas Herrliches für mich. Überall um einen rum zogen die Leute depressive Gesichter, weil der Krieg verloren war. Ich habe nur gefragt: Ist das was Schlimmes? Wir Kinder haben in den Trümmern gespielt und Granatsplitter gesammelt, ich hatte 32 Stück und war stolz wie Bolle.

Fürchten Sie im Moment eigentlich um Ihr Lebenswerk, das Berliner GRIPS-Theater? Normaler Schulbetrieb ist nach Worst-Case-Prognosen erst im Jahr 2022 wieder möglich. Das wäre für alle Kinder- und Jugendtheater doch eine Katastrophe, oder?
Natürlich, die Gefahr, dass die Schulklassen nicht mehr kommen, ist groß. Wir müssten umstellen auf Erwachsenentheater, um weiter zu existieren. Es gibt ja genügend Solidaritätsadressen an das GRIPS, auch von Klaus Lederer, ich glaube schon, dass wir überleben. Nur mit welchem Spielplan, das weiß ich nicht. Theater für Kinder muss aber obligatorisch sein. Ich hoffe, dass die Politik sich dafür einsetzt.

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