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Charismatischer Monomane: Der Medientheoretiker Friedrich Kittler starb im Oktober 2011.

© dpa

Friedrich Kittler: Frei wie ein Paradiesvogel

Friedrich Kittler war ein prononcierter Außenseiter: Wie er zum Star und posthumen Faszinosum zwischen Mythos und Ernüchterung wurde, erkundet die jüngste Ausgabe der „Neuen Rundschau“.

Von Gregor Dotzauer

Was fünf Jahre nach Friedrich Kittlers Tod von ihm und seinem Denken geblieben ist, bewegt sich zwischen Mythos und Ernüchterung. In den Kellern des Marbacher Literaturarchivs lagern nicht annähernd erschlossene Papiere aus dem Nachlass sowie 756 Datenträger, darunter neun Festplatten. Das Editionsbüro an seiner letzten Wirkungsstätte, der Berliner Humboldt-Universität, hat mit „Baggersee“ bisher nur einen Band mit psychoanalytisch geprägter Theorieprosa aus seinen frühen Freiburger Jahren veröffentlicht. Und ob das, was sich um das Spätwerk rund um die zwei noch zu Lebzeiten erschienenen Bände von „Musik und Mathematik“ rankt, für Nachgeborene überhaupt lesbar ist, daran zweifeln selbst manche Weggefährten.

Warum Kittler aber eine faszinierende Figur bleibt, erklärt in einer Art postumer Festschrift die jüngste Ausgabe der „Neuen Rundschau“. Auf 300 von insgesamt 400 Seiten beschäftigt sich „Dunkle Physis, lichter Kosmos“ mit diesem prononcierten Außenseiter der akademischen Welt. Zu den Autoren der über zwei Dutzend Beiträge zählen Alexander Kluge, Lothar Müller, Tom McCarthy und, mit poetischen Sappho-Kommentaren, Durs Grünbein. Dabei wird mehrfach Kittlers Weg von der Philosophie über die Germanistik zur Medientheorie verhandelt – wenn sich das bei ihm je hätte trennen lassen. Kittlers seinerzeit von einigen traditionalistischen Granden der Literaturwissenschaft angefeindete Habilitationsschrift „Aufschreibesysteme“ gilt heute als Gründungsdokument der zeitgenössischen deutschen Medienwissenschaft.

Für Kittler gab es nur Worte - keine Wahrheit

Der Bruch ereignete sich anderswo. Raimar Zons erklärt, dass Kittler „ein wirklicher Benjamin Button“ war, „ein alter Mann, der immer jünger wurde – bis zum griechischen Kind. ,Griechenland’, das ist sein ,wir’, seine ,Bewegung’, sein 68, in keinerlei Dienst sich nehmen lassen und so frei sein wie ein Vogel.“ Reinhard Mehring spricht dagegen von einem „Kittler I“, der dem wehrhaften deutschen Universitätswesen „Heideggers illegitime Kinder“ Foucault, Derrida und Lacan nahegebracht habe, während „Kittler II“ diese hinter sich ließ, um sich dem Vater zuzuwenden, bis hinein in dessen Jargon. Der Hefttitel bezieht sich auf einen Satz aus „Musik und Mathematik“: „Anstatt der dunklen Physis und des lichten Kosmos, wie sie Seiendes zur Harmonie verfugen, tritt jäh das Wesen als Ousia, kurz die Seiendheit.“

Wenn der Weimarer Medienhistoriker Bernhard Siegert recht hat, dass es für seinen Lehrer „keine Wahrheiten, Ideen und Intentionen“ gab, sondern „nur Worte“, dann darf man solch kryptisch heideggernden Formulierungen nicht lange nachsinnen. Vielleicht sollte man auch nicht allzu viel Mühe darauf verwenden, herauszufinden, wo bei Kittler das Argument endet und die bloße Schreibgeste beginnt. Zu einer Zeit, in der es die trügerische Geschlossenheit geisteswissenschaftlicher Texte noch aufzubrechen galt, war es legitim, „knausgårdhaft einem pulsierenden Denken beim Arbeiten“ zuzuschauen, wie es sich Heft-Herausgeber Frank Hertweck vorgenommen hat. In Zeiten, in denen man im Angesicht von Martin Heideggers offenem Antisemitismus auch jedes seiner philosophischen Worte erneut auf die Goldwaage legt, ist es vielleicht nicht verkehrt, wieder etwas mehr begriffliche Disziplin einzufordern.

Im Interview mit Hertweck erzählt Siegert anschaulich, wie der „Medienmaterialist“ Kittler zum Star wurde: ein Mann ohne echte Freunde, ohne Talent zur Selbstironie, was ihn zugleich zu seiner charismatischen, gegen Selbstzweifel immunen Monomanie befähigte. Dabei zeichnet er auch ein Stück im Bologna-Zeitalter verlorener Universitätsgeschichte nach. Im Guten wie im Schlechten gewinnt man Einblick in die Kämpfe gegensätzlicher akademischer Glaubensrichtungen und in die Initiationsriten, denen man sich unterwerfen musste, um zum inneren Zirkel von Kittlers Eleven zu gehören. Unwahrscheinlich, dass heute noch einmal eine sich schmunzelnd als „Kittlerjugend“ apostrophierende Gemeinschaft von Bewunderern entstehen würde. Man muss deshalb ja nicht gleich sentimental werden.

Neue Rundschau. Fachmagazin. Ausgabe 2016/3, S. Fischer Verlag, 15 €.

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