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Die US-amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag zeigt am Sonntag am 12.10.2003 während der Friedenspreis-Verleihung des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche mit Dieter Schormann, dem Vorsteher des Börsenvereins.

© picture-alliance / dpa/dpaweb /Werner Baum

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2003: Literatur ist Freiheit

Susan Sontag balanciert zwischen alter und neuer Welt - und Laudator Ivan Nagel ruft zum Widerstand auf.

Von Gregor Dotzauer

Einer war nicht da. Er hatte keine Terminprobleme wie der Bundespräsident und der Bundeskanzler. Nein: Er wollte der Verleihung des Friedenspreises an die New Yorker Schriftstellerin Susan Sontag fernbleiben, und so verlieh sein Fehlen ihrer Rede eine politische Dimension, lange bevor sie ein einziges Wort gesprochen hatte.

Schon im Juni hatte Daniel Coats, amerikanischer Botschafter in Deutschland, die Einladung des Börsenvereins in die Paulskirche dankend abgelehnt: ein symbolischer Akt, der auch den Handschlag zwischen Gerhard Schröder und George W. Bush vor einigen Wochen in zweifelhaftem Licht erscheinen lässt.

Susan Sontag hätte das nur als grobe Unhöflichkeit empfinden können, aber sie machte es am Sonntagvormittag in Frankfurt zum Thema ihrer Rede: als Interpretation eines Verhaltens, das ihrer beider Rolle in der Öffentlichkeit missversteht. "Ein amerikanischer Botschafter", erklärte sie, "hat die Aufgabe, sein Land zu repräsentieren - das ganze Land. Ich dagegen repräsentiere selbstverständlich nicht ganz Amerika und nicht einmal jene ansehnliche Minderheit, die dem imperialen Programm von Mr. Bush die Zustimmung verweigert."

Verbitterter Unmut

Dreißig bis vierzig Prozent der amerikanischen Bevölkerung, hatte sie am Tag zuvor in einem Pressegespräch geschätzt, würden der neuen US-Außenpolitik die Zustimmung verweigern: eine Zahl, die sich in der Haltung der politischen Repräsentanten nicht niederschlage - auch weil die Republikaner die einzige funktionierende Partei seien. Botschafter Coats, sagte Sontag in der Paulskirche, habe deutlich gemacht, "dass ihm mehr an einer Bekräftigung der ideologischen Position und des verbitterten Unmuts der Regierung Bush" liege, als daran, seiner Diplomatenpflicht nachzukommen.

Dabei war Susan Sontags Rede - nach ihren zum Teil hochpolemischen Einlassungen nach dem 11. September - ein äußerst moderater Versuch, das Verhältnis von amerikanisch geprägtem Europa und europäisch initiiertem Amerika zu bestimmen: die viel beschworene Kluft zwischen den Kontinenten, die einen echten Konflikt verbirgt. Sie wagte eine dialektisch angelegte Definition von "Alt" und "Neu", die mit Donald Rumsfelds politisch instrumentalisierter Begriffszuweisung nicht das Mindeste zu tun hat.

Sie nahm Alexis de Tocqueville und D. H. Lawrence als Kronzeugen in Anspruch, und sie wies in einem - eigentlich viel zu kurzen - Exkurs auf die Religion als Voraussetzung der amerikanischen Hybris hin: Die "moderne, vergleichsweise inhaltsleere Vorstellung von Religion, die der Freiheit des Konsumenten strukturell ähnlich ist, bildet die Grundlage für den Konformismus Amerikas, für seine Selbstgerechtigkeit und seinen Moralismus (den die Europäer oft herablassend als Puritanismus missdeuten)."

Schmerzhafte Diagnosen

Diese Spiegelung der vermeintlich so säkularen Opposition gegen den weltweiten, aus fundamentalistischem Geist geborenen Terrorismus zielte zurück in die eigene Gesellschaft - und war schon die schmerzhafteste ihrer Diagnosen. Eine Diagnose, die sie im Übrigen auf höchst aktuelle Weise mit ihrem Landsmann Jon Kracauer teilt, der zwei Tage zuvor auf der Buchmesse seine große Reportage über fundamentalistische Mormonen-Städte in den USA vorstellte: "Under the Banner of Heaven - Mord im Auftrag Gottes".

Die weitaus deutlicheren Sätze sagte Ivan Nagel, der Berliner Publizist und Theatermann, in der Laudatio auf Susan Sontag. Nagel war es, der seiner Freundin - durch Sontags lebendige Erfahrung mehrerer Kriege von Vietnam über den Jom-Kippur-Krieg in Palästina bis zu ihren Reisen nach Bosnien - das Recht zugestand, über das Leiden anderer nachzudenken: "Die Welt ist gespalten in Menschen, die den Krieg kennen - und die ihn nicht kennen. Die größte Angst aber in diesen letzten Jahren gilt einer unaufhaltsam fortschreitenden Gefahr: dass die Herrschaft über Völker, Armeen, Konzerne in die Hände von Menschen übergeht, die den Krieg nicht kennen."

Und Nagel erinnerte an jenen Mann, der sich am 1. Mai, um nach dem Irak-Krieg "den Frieden zu verkünden, auf dem Deck eines Kriegsschiffes in Kampffliegeruniform zeigte - obwohl er sich in jungen Jahren, den letzten des Vietnam-Krieges, vor jedem Kampfeinsatz drückte. Er hielt sich heraus nicht als einer der straffälligen Kriegsdienstverweigerer, die damals zu Tausenden ihrem Denken und Gewissen folgten, sondern als der Sohn eines reichen, sehr einflussreichen Ölindustriellen und Politikers." Der Mann in der Fliegeruniform, man erinnert sich, war George W. Bush.

Ein ideales Paar

Vom politischen Aufruf, mit dem Nagel endete, ergänzt um ein Adorno- und ein Lessingzitat über das Vorläufige aller Wahrheit, davon war Sontag, auch wenn sie das sicher geteilt hätte, weit entfernt: "Wir sollten uns weigern, durch nachträgliche ‚bündnispartnerliche' oder auch ‚humanitäre' Beihilfe jetzt schon den nächsten Krieg mitzuerfinden", forderte Nagel.

Ivan Nagel und Susan Sontag, das war ein Paulskirchen-Rednerpaar, das mehr als die Preisträger und Laudatoren in den Jahren zuvor miteinander verknüpft war. Ein Paar, bei dem die Grenzen zwischen Lobes- und Dankesrede verschwammen. Und eines, das aufs Schönste für die Freundschaft zwischen zwei geistigen Welten steht, deren Aufblühen nur erfordert, "im eigenen Gehirn keine Decke, kein Schutzdach der Konvention" zu haben (Nagel) und Literatur als Archiv versteht, mit dem Menschen lernen, "auf das einzugehen, was im Entwicklungsprozess der Kulturen und in ihren Wechselbeziehungen lebendig und was dem Untergang geweiht ist" (Sontag).

Der Exil-Ungar und die von Schülerinnentagen in Arizona an durch ihren Lehrer Mr. Starkie mit Goethes "Werther" und Storms "Immensee" in Berührung gekommene Tochter assimilierter Juden: Sie waren die lebenden Beispiele für einen Austausch, der Sontags Leben seit jeher geprägt hat.

Ob die Zwölfjährige im Juli 1945 in einer Buchhandlung in Santa Monica zum ersten Mal mit den Bildern deutscher KZ-Häftlinge konfrontiert wurde oder ob sie in Gestalt von Fritz Arnold, ihrem langjährigen Lektor bei ihrem deutschen Verlag Hanser, später jemanden kennenlernte, der als Kriegsgefangener in Amerika, der nie eine Waffe angerührt hatte, fast drei Jahre mit ihr im gleichen Bundesstaat verbracht hatte, in ihrer Nähe.

"Zugang zur Weltliteratur", erklärte sie, bedeutete für sie, "dem Gefängnis der nationalen Eitelkeit" zu entkommen: "Literatur war Freiheit". Das gilt für sie noch heute: "Literatur IST Freiheit." Wer ihr aufmerksam zugehört hat, konnte in diesem gewaltigen Wort kein falsches Pathos entdecken.

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