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Mut zur Wut. Das Duo Sööt/Zeyringer in „Angry Hour“.

© Mayra Wallraff

„Freischwimmer*innen“ in den Sophiensälen: Berliner Theaterfestival feiert die weibliche Zukunft

„Freischwimmer*innen“ zeigt eine breite Palette queerfeministischen Theaters. Es geht um Kulturkritik, weibliche Wut und machtkritische Pflanzen.

Wenn Theaterleute vertraulich reden, dann verraten sie einem zum Beispiel, dem Kritiker X und der Kritikerin Y, denen würden sie zu gern mal „mit dem nackten Arsch ins Gesicht springen“.

Andere wiederum behaupten steif und fest, alles, was über sie geschrieben werde, ginge ihnen meilenweit am Allerwertesten vorbei. Und noch einmal andere verfallen in einen ziemlich derben Fäkaljargon, wenn sie ihr Verhältnis zu Rezensionen beschreiben sollen. Jedenfalls, Po und Kritik, das ist eine ganz besondere Beziehung.

Wie passend also, dass in der Performance „Wild Bore“ drei Künstlerinnen ihre entblößten Hintern in Mikrofone sprechen lassen. Was dabei rauskommt, ist eine Collage der übelsten Verrisse, die Zoë Coombs Marr, Ursula Martinez und Adrienne Truscott im Laufe ihrer Karrieren so kassiert haben.

Manche Kritiker fühlten sich durch ihre Arbeiten an den Untergang der Titanic erinnert, beschrieben das Gefühl von komplettem Organversagen oder einer heimlichen Nieren-Entnahme oder erkannten historische Dimensionen des Begriffes „schlecht“. Dann gab es wiederum welche, die rieten schlicht: „Kaufen Sie eine Eintrittskarte für jemanden, den Sie wirklich hassen“.

Dabei ist „Wild Bore“ ein work in progress: Verrisse, die das Stück selbst auf seiner Tour bekommt, werden fortlaufend mit eingearbeitet. Als Dialogangebot gewissermaßen und mit Verlaub: von Arsch zu Arsch.

Nicht alle Vorstellungen sind gelungen

„Wild Bore“ zählt zu den internationalen Gastspielen des diesjährigen Festivals „Freischwimmer*innen“ an den Berliner Sophiensälen. Das Gender-Sternchen ist neu dazu gekommen, weil die bekannte und beliebte Nachwuchsplattform der freien Szene – getragen von den Sophiensälen, brut Wien, FFT Düsseldorf, Gessnerallee Zürich, Schwankhalle Bremen und Theater Rampe Stuttgart – dieses Mal einen queerfeministischen Fokus setzt.

Und dazu mit dem Sophiensäle-Festival „The Future is Female“ verschmolzen wird. Man muss nun sagen, dass nicht alle der vorgestellten Arbeiten die weibliche Zukunft als ersehnenswertes Ideal verkaufen, jedenfalls in theatralischer Hinsicht.

„Sweat - Eine Performance in zwölf (Kraft-)Akten“ ist so ein Fall. Da sieht man einem Künstlerinnen-Kollektiv beim Turnen zu Theorie zu oder bei der Übergabe einer „machtkritischen Pflanze“ (was immer das nun wieder sein soll) an die Leitungsteams der beteiligten Produktionshäuser. Kaufen Sie eine Eintrittskarte für jemanden, den Sie wirklich hassen!

Klischees werden auseinandergenommen

Aber es sind auch sehr schöne Performances entstanden. Wie „Die große M.I.N.T.-Show“ der Gruppe hannsjana zum Beispiel, die zuletzt unter anderem am Theater Thikwa die wilde Gender-Sause „Diane for a Day“ auf die Bühne gebracht hat.

Hier nehmen sich die Performerinnen das Klischee vor, wonach die mathematisch-naturwissenschaftlich-informatisch-technischen Fächer (eben M.I.N.T.) im Allgemeinen eher weniger Appeal für Frauen besitzen. Hannsjana und die fabelhafte Musikerin Bärbel Schwarz beweisen im Setting einer beachtlich grellbunten Showbühne (Àngela Ribera) das Gegenteil.

Was da entfesselt wird, ist eine überbordende, smart-vergnügliche Revue aus binomischen Formeln, Cosinusfunktionen, einem Reproduktions-Quiz zu Regenwurm und Amöbe oder performativ übersetzter Programmiersprache. „Frauen und Technik?“, heißt es einmal so schön, „das ist wie Hanni und Nanni, oder Ernie und Bert - einfach ein gutes Team“.

[Festival Freischwimmer*innen: bis 8. Dezember in den Sophiensälen]

Ebenfalls toll: das minimalistische Stück „Angry Hour“ von Tiina Sööt und Dorothea Zeyringer. Die verhandeln das Thema „Frauen und Wut“. In patriarchaler Tradition bekanntlich ein geringgeschätzter bis überheblich belächelter Gefühlszustand. Sööt und Zeyringer tragen auf leerer Bühne – nur mit einem Holzhocker bewaffnet – ikonische weibliche Zornesmomente aus Historie, Popkultur und Alltagsleben zwecks Empowerment zusammen.

Serena Williams zerdrischt ihren Tennisschläger beim Streit mit einem Schiedsrichter. Beate Klarsfeld ohrfeigt einen Politiker, der früher in der NSDAP war. Stephen Kings „Carrie“ fackelt den High-School-Ball ab. Vorgetragen jeweils in einer kurzen, maximal unaufgeregten Szene – was gerade die Kraft ausmacht.

Einiges Vielversprechendes steht noch an: die Gruppe Follow Us holt eine berühmte Ibsen-Heldin ins Heute, unter Berücksichtigung des demografischen Wandels („Nora oder Ein Altenheim“). Performerin Caroline Creutzburg leuchtet die vielfältigen Verwandlungs-Facetten des Drag aus („Woman with Stones“).

Falls die Kritiken schlecht ausfallen sollten, können die Künstlerinnen sich mit prominenter Gesellschaft trösten, durchaus genderübergreifend. Al Pacino, erfahren wir in „Wild Bore“, musste sich zuletzt beim Broadway-Auftritt attestieren lassen, er „laufe wie eine Anchovis“ und sehe aus „wie ein ungemachtes Etagenbett“.

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