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Jeder in seinem Kosmos. Szenen aus der Berliner Realität 2019.

©  Matthias Heyde

„Frau Luna“ an der Neuköllner Oper: Wenn aus Posse Poesie wird

Single-Dasein in der Metropole: Die Neuköllner Oper macht aus dem Berliner Klassiker „Frau Luna“ eine Einsamkeitsstudie.

Im Tipi am Kanzleramt haben sie aus der „Frau Luna“ eine Sause gemacht, den größten Hit der kaiserzeitlichen Berliner Operette – „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft“ – so richtig ausgelassen gefeiert, mit viel Paillettenglanz und Icke-Gloria. In der Neuköllner Oper dagegen liefern Paul Linckes Melodien jetzt den Soundtrack für einen ganz zarten, fein gearbeiteten Kammer-Musikabend.

Wurden Fortschrittsgläubigkeit und Vergnügungstaumel der boomenden Reichshauptstadt im mondänen Entertainmentzelt liebevoll ironisch nach außen gestülpt, fokussieren sich Ulrike Schwab und Juliane Stadelmann in der intimen Studiobühne an der Karl-Marx- Straße nun nach innen. „Eine Einsamkeitsstudie“ nennen Regisseurin und Librettistin den berührenden Abend, der im Hier und Heute spielt.

Und im Kiez, in einem jener unzähligen Berliner Mietshäuser mit sehr gemischter Bewohnerstruktur nämlich, wo die Nachbarn sich höchstens vom Sehen her kennen und ansonsten aneinander vorbeileben. Darum ist auch keinem aufgefallen, dass Herr K gestorben ist, selbst der merkwürdige Geruch, der sich mehr und mehr im Treppenhaus bemerkbar machte, ließ sie Leute nicht stutzig werden. Als die Leiche schließlich abtransportiert wurde, waren schon drei Monate seit Ks letztem Atemzug vergangen.

Extraterrestrischer Trip mit Wirtin

So weit die ganz und gar nicht operettentaugliche Vorgeschichte des Stücks, das einen Vers aus „Frau Luna“ im Titel trägt: „Ist die Welt auch noch so schön“. Der Lincke-Liebhaber ergänzt im Geiste sofort den Rest des Reims, der da lautet „einmal muss sie untergeh’n“.

Doch auch wer kein Kenner des Stücks ist, merkt schnell, in welche Richtung die Macherinnen zielen. Im Original von 1899 erfindet ein knorker Kerl namens Steppke einen Expressballon, mit dem man zu den Schlössern reisen kann, die im Monde liegen. Und er nimmt seine ganze soziale Bezugsgruppe einschließlich Zimmerwirtin gleich mit zu diesem extraterrestrischen Trip. Undenkbar im Berlin des Jahres 2019 – weil jeder so individuell ist, dass er in seinem eigenen Kosmos lebt. Und darunter leidet. Die Anonymität der Großstadt schützt zwar vor der dörflichen Vollkontrolle durch die Umwelt, lässt aber auch die Kompetenz zum kollektiven Kontakteknüpfen verkümmern.

Jule Saworskis Bühnenbild setzt das optisch überzeugend um: Die fünf Darsteller, Pianist Jörg Daniel Heinzmann, Sounddesignerin Vera Pulido, die Sopranistinnen Angela Braun und Maja Lange sowie der Bariton Martin Gerke, hausen in engen, schmalen Wohnscheiben, sind in ihren minimalen Privatsphären förmlich eingeklemmt. Hier reflektieren sie ihr Metropolen-Single-Dasein, hier versuchen sie, nachträglich etwas Licht in die Schattenexistenz des Herrn K zu bringen, von dem keiner mehr weiß, als dass er Kettenraucher war und ständig eine alte „Frau Luna“-LP hörte.

Linckes populäre Melodien scheinen daher auch immer nur kurz auf, schälen sich wie Erinnerungsfetzen kurz aus dem urbanen Grundrauschen heraus. Meist wird lediglich eine Strophe der Gassenhauer wie „Wenn die Sonne schlafen geht, will ich dich erwarten“, „Leise nur, leise nur, keiner folgt unsrer Spur“ oder eben die „ Berliner Luft“ gesungen, mal solistisch, mal fünfstimmig, fast immer verfremdet. So wird aus der Posse Poesie.

Der Sprachanteil überwiegt deutlich in diesen intensiven 70 Minuten, selten aber sind im Musiktheater so tiefsinnige Texte zu hören wie die, die Juliane Stadelmann ihren Figuren in den Mund legt. „Keiner zieht mehr um. Keiner kann mehr weiter“, sinniert der Arzt, der Wand an Wand mit dem Verstorbenen gelebt hat. „Die Stadt erlahmt wie ein angeschossenes Tier.“

Das kann man nur noch mit Gesang ausdrücken

Trotz der Schlichtheit der Sprechsprache, mit der die Darsteller sie formulieren, greifen die Texte weit aus ins Philosophische, gerinnen nicht selten zu Sentenzen. Und erfüllen doch ihre opernhafte Funktion, indem sie nämlich Seelenzustände umreißen, die mit Worten eigentlich nicht mehr zu beschreiben sind, die nach einer anderen Ausdrucksebene verlangen: nach Gesang. Dabei werden die Operetten-Nummern aufgewertet, wirken fast wie Kunstlieder, die von der Lebensrealität im heutigen Berlin erzählen: „Alles ist wie umgekrempelt, wenn einer an den andern rempelt.“

Sensibilisiert, mit feineren Antennen, geht der Besucher hinterher die nächtliche Karl-Marx-Straße entlang, schaut an den Fassaden der Gründerzeitbauten hoch, in die erleuchteten Fenster. Und fragt sich, hinter wie vielen von ihnen wohl die Einsamkeit wohnt.. Weitere Aufführungen bis 26. Juni.

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