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Schelmischer Poet: Patrick Suel.

© Davids/Sven Darmer

Französischer Buchhandel in Berlin: Die überschäumende berlinische Fauna

Wenn exilierte Franzosen in Berlin nach wichtigen, zeitgenössischen Texten suchen, gehen sie zu "Zadig". Die französische Buchhandlung in der Linienstraße schließt damit eine Lücke.

Im September wird sie zwölf Jahre alt, die französische Buchhandlung in der Linienstraße 141. Zwölf Jahre seit Patrick Suel, der einzige unabhängige französische Buchhändler Berlins, seine Regale aufgebaut und seine erlesene Büchersammlung in der ehemaligen Filzmanufaktur ausgepackt hat; als die Fassaden noch zerfressen waren, die Linienstraße noch verlassen und marode, einen Steinwurf entfernt vom Tacheles, der Hochburg des Berlinfiebers jener Jahre.

Patrick Suel taufte seine Buchhandlung Zadig, wie der Held des philosophischen Märchens von Voltaire, der als Freund Friedrichs des Großen ebenfalls in Berlin verkehrte. In dieser kleinen Buchhandlung, wo wir, die exilierten Franzosen in Berlin, uns mit wichtigen Texten zeitgenössischer Autoren versorgen, um nicht die Verbindung zu unserer Sprache zu verlieren, zur schriftstellerischen Gegenwart unseres Landes. Bei Zadig trifft man sich; man verweilt und unterhält sich mit dem Buchhändler, der immer bereit ist, mit seinen Kunden zu diskutieren.

49 Jahre alt, ein schöner Mann, ein kleiner Stecker im linken Ohrläppchen und ein Hemd mit Wildblumenmuster: Patrick Suel könnte einem Film von Éric Rohmer entsprungen sein. Vor allem wenn er spricht – oder besser – wenn er deklamiert: Seine Ausschweifungen wandern in solche Ferne, dass es schwierig ist, seine Gedanken zurück auf den Weg zu ziehen. Hin und wieder muss man ihn bremsen und bitten zu erläutern – schlicht und ganz sachlich –, was er denn nun genau meine. Er liebt provokante Metaphern. Er liebt die Wörter. Die „Worte“ würde er sagen. Er bezeichnet sich als Anhänger Rimbauds, und tatsächlich hat er den Look eines poète maudit, eines schelmischen Poeten. Ich bin „glühend“, sagt er, „wie wir in Südfrankreich es ausdrücken“.

Pfaffenfresser und Deutschenfreunde

Es war sein Großvater, der dem aus Cévennes stammenden Patrick Suel die Liebe zu Deutschland vermachte. „Mein Großvater war ein großer Utopist, ein Germanophiler. Er war Gendarm in Reutlingen bei den französischen Besatzern, direkt nach dem Krieg. Ein Antiklerikaler à la française. Er nahm uns mit auf die Begräbnisse seiner Freunde, doch blieb er stets vor den Kirchentoren stehen. Ich bin ein Erbe dieser Männer des Südens, Pfaffenfresser und Deutschenfreunde.“

Patrick Suels Vater spielte in den Ruinen des zerstörten Deutschland mit den Kiezjungs. Als er ihnen sagt, er sei „a Schwob “, kugeln sich die Kinder vor Lachen. „Er arbeitete für große deutsche Firmen“, erinnert sich Patrick Suel. „Am Tisch wurde oft Deutsch gesprochen. Meine Schwester ist heute sogar Deutschlehrerin. Ich hingegen war immer ein absolut desinteressierter Schüler.“

Das Berlin, wie es wirklich ist, zeigte ihm erst seine Frau Myriam. Patrick Suel traf sie in der Underground-Musikszene in Bordeaux, die Punkerin mit orangen Haaren, die Germanistin in zerrissenen Leoprint-Leggins. Myriam war gerade zurück von ihrem Au-Pair in Berlin, zwei Jahre, 89 und 90 – „à Zehlendorf, s’il vous plaît“ –, im gutbürgerlichen Südwesten. Sie hat nur eins im Kopf: Zurück nach Berlin! Sie nimmt ihren Geliebten mit. Ein Spaziergang in Kreuzberg und Patrick Suel ist sofort überzeugt. Die Entscheidung ist sehr schnell gefällt: Sie werden in Berlin bleiben. Patrick Suel hat Philosophie und Musik studiert, hält sich mit kleinen Jobs im Callcenter über Wasser.

Gesetz des Geschmacks und der Leidenschaft

Bis er eine Marktlücke erkennt: „Ich brachte meinen Berliner Freunden immer wieder Bücher aus Paris mit; irgendwann sagte ich mir: Das ist die Chance. Ich war aber sehr pragmatisch. Alles war so unstet hier. Ich musste warten, bis sich die Dinge verfestigten und ich mich entscheiden konnte, in welchem Viertel ich mich niederlassen möchte. Ich wartete auf die Einführung des Euro; ich empfand das als sinnvolle Frist. Ich hatte keine Ausbildung zum Buchhändler. Ich war nie auf einer Handelsschule. Null Ahnung von Geschäftsführung. Aber ich legte los.“

2002 heiraten Patrick und Myriam im Rathaus des neunten Arrondissements von Paris. Patrick Suel geht zurück nach Berlin und macht eine Umfrage. Er verfasst einen Fragebogen, den er an drei strategischen Orten der Stadt an Passanten verteilt. Zu der Zeit war es schwierig, französische Bücher zu bekommen. In einer Kleinanzeige entdeckt Patrick Suel den Laden in der Linienstraße in Mitte: Die Miete ist sehr günstig; keine Bürgschaft eines Unternehmer-Vaters nötig, der die Kreditwürdigkeit des Mieters attestiert. Patrick Suel unterschreibt und Zadig öffnet am 15. September 2003. Seine Tochter ist gerade einen Monat alt.

11 000 Franzosen leben zu der Zeit in Berlin, heute sind wir offiziell 30 000. Aber wenn man die Hipster aus Neukölln dazuzählt, die sich nicht bei der Botschaft melden, kommen wir locker auf 50 000. Die Berliner Franzosen stellen etwa die Hälfte der Kundschaft im Zadig. Der Rest sind frankophile Deutsche. Patrick Suel beherbergt Autoren, die er schätzt. „Bei mir hat jedes Buch eine Geschichte. Sie sind keine Durchgangsware, die der Mode ausgesetzt ist, den Bestsellerlisten. Hier herrscht das Gesetz des Geschmacks und der Leidenschaft.“

Weg von Provence und Akkordeon!

Bei Zadig kommt nicht alles ins Regal: Kein Platz hier für die groteske Germanophobie von Jean-Luc Mélenchon, dem Führer der französischen Linksfront, dessen letztes Buch eine unverschämte Schmähschrift gegen Deutschland ist. Oder auch Valérie Trierweiler, die ehemalige Lebensgefährtin von François Hollande, die sich in spitzzüngiger – und verkaufsträchtiger – Bitterkeit ergießt. „Ich versuche den Kunden schöne, zeitgenössische Texte nahezulegen, die frankophone Literatur der Avantgarde – eine Auswahl des 21. Jahrhunderts, der neuen Ideen. Ich will dieses klischeehafte Frankreichbild begraben: weg von Provence, Akkordeon, Tour de France und dem kleinen Weißen zum Mittagessen. Seit Camus und Sartre gibt es anderes!“

Um französischen Autoren, die in Berlin leben, eine Plattform zu bieten, hat Patrick Suel die „Rue des Lignes“ (Französisch für Linienstaße) gegründet, seine eigene Buchreihe. Dort erschienen bereits zwei sehr schöne Texte: eine großartige Promenade durch Berlin von Christian Prigent, einem Dichter, der mehr als zehn Jahre in Berlin lebte, und eine feine und sehr schöne Erzählung von Cécile Wajsbrot, ebenfalls Pendlerin, zwischen Berlin und Paris. Patrick Suel würde gerne Wilfried N’Sondé mit einem Text beauftragen, den französischen Autor kongolesischen Ursprungs, der mit seiner Lesung im Zadig den Besucherrekord aufstellte. Patrick Suel liebt diesen feinen und eigenen Blick von außen, den seine französischsprachigen Autoren auf „ihr“ Berlin haben.

Die Angst vor der Normalisierung Berlins

Patrick Suel hat sich Berlin zu eigen gemacht. Er spricht von „meiner Stadt“, von „unserem guten Berlin“. Man muss ihn einfach hören, wie er auf die Barrikaden steigt und seine Stimme erhebt, wenn er seine Adoptivheimat verteidigt. Als er in der Linienstraße anfing, gab es nur ein Schmuckgeschäft und einen Bioladen, der allerdings vor Kurzem wieder geschlossen hat. Aber vor allem gab es diese schönen Lücken, mit den großen Bäumen und dem wilden Gras. Dort organisierte das Zadig Freiluft-Lesungen. „Heute“, bedauert Patrick Suel, „ erinnert die Linienstraße an ein Gebiss nach dem Zahnarztbesuch: die Löcher gefüllt, die Lücken überbrückt. Wir befinden uns hier im Epizentrum der Gentrifizierung. In dieser Straße platzt noch mein Trommelfell.“

Seit zwei Jahren ist Zadigs Nachbar eine Townhouse-Baustelle, hightech, mit zweistöckiger Tiefgarage. Der Lärm ist unerträglich. Es haben sich schon Risse in der Wand der Buchhandlung gebildet. Und wir Franzosen in Berlin teilen uns mit Patrick Suel dieselbe Angst: dass Berlin sich normalisiert, dass Berlin fad und bobo wird, bourgeois bohème, der französische Ausdruck für Gentrifizierung. „Das hier hat nichts mehr zu tun mit dem alternativen, provokanten Berlin, in das wir uns alle verliebt haben in den 90er Jahren. Früher hat man mich hier als Bourgeois bezeichnet, weil ich einen Mietvertrag unterschrieben habe; heute bin ich der Alternativste hier und all das amüsiert mich. Ja, ich bin das Gedächtnis der Linienstraße. Das ist das Schicksal eines Buchhändlers.“ Patrick Suel vermisst die Zeit, „in der wir auf den Teerdächern im Prenzlauer Berg feierten und das Tacheles noch bebte vor Energie“. Er nennt das „die überschäumende berlinische Fauna“. Wenn man Patrick Suel zuhört, wie er davon spricht, weiß man: Dafür hätte keiner bessere Wörter finden können – Verzeihung – „Worte“.

Übersetzung: Fabian Federl

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