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Max Horkheimer (links) und Theodor W. Adorno auf zwei undatierten Aufnahmen.

© picture-alliance/ dpa

Frankfurter Schule: Rezeption gerade nicht besetzt, bitte läuten

Adorno, Horkheimer und Co.: Stuart Jeffries erzählt in „Grand Hotel Abgrund“ die Geschichte der Frankfurter Schule. Das Buch ist griffig geschrieben und hält eine kritische Distanz.

Grand Hotel Abgrund: Das könnte der Titel einer Krisengeschichte des Tourismus sein. Doch es handelt sich um die Erzählung von einem Theoriezirkel im Wandel der Zeit. Die Bewohner des Grand Hotels: Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und ihre Mitstreiter. Die titelgebende Formulierung prägte der ungarische Literaturtheoretiker Georg Lukács, von dem Thomas Mann schwärmte, bevor Lukács zum kommunistischen Parteiphilosophen wurde.

Der „Guardian“-Journalist Stuart Jeffries porträtiert das Frankfurter Institut für Sozialforschung: 1923 gegründet, um engagierte Forschung zu betreiben, die an den Universitäten damals keinen Ort hatte. Nur mit mäzenatischen Mitteln ließ sich die angestrebte Form umsetzen. Kaum ein Jahrzehnt nach der Eröffnung musste das Institut emigrieren.

Asyl fand es an der Columbia University in New York. Nach dem Ende der Nazizeit kehrte ein geschrumpfter Kreis zurück, ein Teil blieb in den USA, andere gingen neue Wege in Ost und West. Bei der Wiedereröffnung 1951 in Frankfurt war das sozialistische Fortschrittsprogramm einem skeptischen Denken gewichen.

Die Rückkehrer rangen mit der Frage, wie sich der Nationalsozialismus hatte durchsetzen können. Kritik formulierten sie auch an den vermeintlich sozialistischen Ostblockstaaten. Das motivierte den Vorwurf, sie blickten von einer eleganten Hotelterrasse beim Aperitif hinunter auf das Elend der Welt. Der Rhetoriker Lukács schien die kürzestmögliche Beschreibung für jene neue Form der Gesellschaftstheorie gefunden zu haben - eine Charakteristik der Frankfurter Schule in drei Worten, die gleichwohl verfing, weil sie ihren Standort nicht offenlegte. Wer sprach da? Der Hotelier, der Abgrundbewohner? Der als Rezeptionist verkleidete Agent?

Der Autor stützt sich auf ältere Einführungen und Biografien

Jeffries wählt die Form der Gruppenbiografie. In den Hauptrollen Adorno, Horkheimer und Marcuse, daneben zwei Außenseiter oder Abtrünnige, die nie ganz oder nur kürzer zum Institut gehörten: der Psychoanalytiker Erich Fromm und der Essayist Walter Benjamin. In den Nebenrollen die weniger schillernden Figuren: die Ökonomen Friedrich Pollock und Henryk Grossmann, die Juristen Franz Neumann und Otto Kirchheimer, der Literaturhistoriker Leo Löwenthal. Andere Namen sucht man vergeblich, etwa den des Philosophen und Historikers Franz Borkenau.

Neue Quellen hat Jeffries keine aufgetan, auch hat er nicht aus den Archiven geschöpft. Er stützt sich weitestgehend auf Publiziertes, meist ältere Einführungen und Biografien. Darin liegen Stärke und Schwäche des Bandes. In mancher Hinsicht handelt es sich um die beste Geschichte der Frankfurter Schule, die gegenwärtig zu haben ist. Das Buch ist pointiert geschrieben, auch mit kritischer Distanz, aus der journalistischen Aktualität heraus: Es vermeidet die Mimikry des Stils und der Wortwahl, es ist ein Stück Unterhaltung. Wider Willen zeigt der Autor damit aber auch: Längst ist die Frankfurter Schule dort angekommen, wo sie nie hinwollte – in der Kulturindustrie.

Schlecht weg kommen die folgenden Generationen

Entsprechend hätten sich die Figuren weder diesen noch einen anderen Autor gesucht. Den glamourösen Bericht hätten sie als Teil des Freizeitgeschäfts abgelehnt. Das allein spricht nicht gegen das Narrativ. Auch kleine Ungenauigkeiten verzeiht man. Schwerer wiegt, dass das Buch den Niedergang einer Tradition nachzeichnet – auch wenn Jeffries in der Jenaer und Münchner Soziologie neue Hoffnungsschimmer entdeckt. Schlecht weg kommen die folgenden Generationen, die nur am Rande und mit wenig Textkenntnis präsentiert werden.

Schlicht respektlos wird Jeffries, wenn er das Gespräch von Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger mit einer Episode aus George Orwells „Farm der Tiere“ illustriert: Zwischen „Mensch“ und „Schwein“ sei kein Unterschied mehr zu erkennen, meint Jeffries, der im späten Habermas den Aufklärer nicht wiederfinden kann.

Der Materialfundus ist größer denn je

Das Buch ist antiquiert. Es schwimmt gegen den Strom nicht nur der Zeit, sondern auch der Forschung: Theodor W. Adorno, der vor 50 Jahren starb, wird gegenwärtig neu entdeckt. Nicht das Starren in den Abgrund steht dabei im Zentrum, sondern sein demokratisches Wirken. Nachspüren kann man diesem etwa in Adornos „Vorträgen“ aus den Jahren 1949 bis 1968, die Suhrkamp – nach erfolgreichem Vorabdruck der Analysen zum neuen Rechtsradikalismus – gerade herausgebracht hat. In der Greifswalder Politikwissenschaft entsteht eine Edition der Schriften Otto Kirchheimers. Der Fundus ist größer denn je.

Schon der Titel „Grand Hotel Abgrund“ ist gewagt für ein Buch, das antritt, um mit Klischees aufzuräumen. Die stalinistischen Verdammungen sind längst Geschichte und lassen sich wie die witzigen und polemischen Repliken Adornos nachlesen. Die Verunglimpfungen kommen heute, wie Jeffries schreibt, eher aus dem äußerst rechten Lager: amerikanische Verschwörungstheorien in antisemitischer Tradition, die es bis in Anders Breiviks Manifest schafften.

Damit die These, die Frankfurter Schule sei brandaktuell, nicht touristisch bleibt, hätte sich der Autor etwas weniger in der Hotellobby ausruhen und in der Tradition seiner Helden die Gänge und Treppen durchleuchten, die Keller und das Dach durchstöbern müssen. Was ist dran an der Geschichte einer privilegierten Rebellion? Wenn Jeffries am Ende doch in die antikapitalistische Phrasenkiste greift, ohne kritisch nachzufragen, dann würde man mit Adorno gerne sagen: weniger „Hotelsoße“, bitte.

Hendrikje Schauer

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