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Jürgen Holtz als Galileo Galilei.

© Matthias Horn

Frank Castorf inszeniert "Galileo Galilei": Das teleskop ich mir

Wenn Wissenschaftler wanken: Frank Castorfs Inszenierung von Brechts „Galileo Galilei“ am Berliner Ensemble, mit Jürgen Holtz als Titelhelden.

„Die alte Zeit ist herum, und es ist eine neue Zeit“, heißt es zu Beginn von Bertolt Brechts „Leben des Galilei“. Ein Satz, der schon zur Entstehungszeit des Stückes eher anachronistisch klang. Brecht selbst nannte seine Absicht, „das ungeschminkte Bild einer neuen Zeit zu geben“, selbst ein anstrengendes Unterfangen, „da jedermann überzeugt war, dass unserer eigenen alles zu einer neuen fehlte.“ Es war 1938, als Brecht mit der Arbeit am „Galilei“-Stoff begann. Da lebte er seit fünf Jahren im Exil. Am Berliner Ensemble, in der Inszenierung von Frank Castorf, klingen diese Galilei-Worte erstaunlicherweise wie ein Novum. Gegenwartsdurchlässig, als hörte man sie zum ersten Mal, und gleichzeitig bar jeder Naivität: Ein beglückendes Seltenheitsphänomen im Theater.

Denn Galilei ist hier Jürgen Holtz, der 86-jährige Ausnahme-Schauspieler, dem man, während er spricht, live beim Denken zuschaut. Dass dabei, verständlicherweise, häufig die Souffleuse zum Einsatz kommt, stört diesen Prozess überhaupt nicht, im Gegenteil. Holtz’ Sprech-Denken ist eines, das sich, quasi mit der Lebenszeit und -Weisheit im Rücken, die nötige Muße lässt. „Wo der Glaube tausend Jahre gesessen hat, eben da sitzt jetzt der Zweifel“: Solche fast zu Tode zitierten Sätze sagt Holtz wirklich so, als wolle er sich dieser „neuen Zeit“, dem „Zweifel“ noch einmal komplett aussetzen.

Der nackte Jürgen Holtz: Gezeichnet, beschrieben, lebensdurchbeutelt

Und zwar buchstäblich mit seinem ganzen Körper, in den sich eine denkbar ereignisreiche Ost-West-Lebensgeschichte und vor allem – Holtz arbeitete mit allen Branchenlegenden von Benno Besson über Heiner Müller bis zu Einar Schleef – Theatergeschichte eingeschrieben hat. Und der jetzt, bei diesem Monolog, nackt an der Rampe steht. Gezeichnet, beschrieben, lebensdurchbeutelt: Wirklich eine Idealbesetzung für diesen widersprüchlichen „Galilei“, den Brecht sagen lässt, wer die Wahrheit nicht wisse, sei bloß ein Dummkopf, aber wer sie wissentlich eine Lüge nenne, sei ein Verbrecher. Und der hernach – im Angesicht inquisitorischer Folterinstrumente – selbst seine weltbildumstürzende Theorie widerruft.

Diese Figur, an der schon ganze Schülergenerationen die Fragen nach der Verantwortung des Wissenschaftlers und der Wahrheit und ihrer Vereinnahmung durchdekliniert haben, ließ Brecht bekanntlich nicht mehr los. Nach der dänischen Fassung von 1938/39 entstanden noch zwei weitere: die amerikanische, zwischen 1945 und 1947, unter dem Eindruck des Atombombenabwurfs. Und schließlich die Berliner, 1954 bis 1956. Insofern ist es nicht überraschend, dass das „Leben des Galilei“ auch bei Frank Castorf seine Zeit dauert. Zumal der Regisseur nach wie vor als größter dramatischer Effizienzverweigerer gilt, als personifiziertes Feindbild der auch im Theater immer stärker um sich greifenden „Tatort“-Ökonomie. Viereinhalb, maximal fünf Stunden: So hatten die Prognosen aus dem BE gelautet. Am Ende sind es dann reichlich sechs geworden.

Und die beginnen fast schon erstaunlich Brecht-werktreu: Holtz sitzt als Galilei über seinen Forschungen, beklagt sich, dass er seine Zeit mit desinteressierten, begabungsfreien Schülern verplempern muss, weil man ihm nicht genug bezahlt. Und schon erscheint, aufs Stichwort, Jeanne Balibar als banausischer Ludovico, der sich eher für Pferde als für Naturwissenschaften interessiert und in einem beeindruckenden akrobatischen Akt quer über den Holtz-Stuhl legt: ein durchschlagender Erfolgsfall wissenschaftlicher Arbeitsverhinderung. Dazwischen tritt, ebenfalls Brecht-treu, die Haushälterin Sarti in Gestalt der Schauspielerin Stefanie Reinsperger auf, stimmt gelegentlich einen (Eisler-)Song an und ermahnt Herrn Galilei mit lautstarkem Besorgnistimbre in der Stimme, ihrem Sprössling Andrea – gespielt von Castorfs Sohn Rocco Mylord – den Kopf nicht mit naturwissenschaftlichen Flausen zu vernebeln. Aleksandar Denić hat dafür wieder eine seiner verwinkelten Bühnenwelten gebaut, mit teilweise nur per Live-Video einsehbaren Kämmerchen, die sich diesmal plausiblerweise um ein überdimensionales hölzernes Fernrohr gruppieren.

Nach der dritten Szene nimmt der Abend die erste Abzweigung

Erst nach der dritten Szene nimmt der Abend – Castorfs zweite Inszenierung am BE nach seinem unfreiwilligen Volksbühnen-Intendanzende – die erste Abzweigung. Der Regisseur konfrontiert Brecht mit Antonin Artaud: „Galileo Galilei – Das Theater und die Pest“ nennt Castorf seine Inszenierung „von und nach Bertolt Brecht“. Wobei die (auch im „Galilei“"- Stück ausbrechende) Pest zunächst als Einfallstor fürs Irrationale dient. Mit der ganzen, viel zitierten (aber nicht leicht zu verkörpernden) Hysterie des Castorf- Theaters versuchen Stefanie Reinsperger und Sina Martens, die der im Stück arg biederen Galilei-Tochter Virginia übrigens ein interessant ordinäres Selbstbewusstsein verpasst, sich gegenseitig aufgeschminkte Pestbeulen aufzukratzen und zu -beißen: Der dionysische Antidot zum rationalen Wissenschaftsstreben.

Heiner Müller – von Holtz vor der Pause sehr eingängig aus dem Off eingesprochen – stellt dann mit seiner Diagnose vom „Denken am Ende der Aufklärung“ die direkte Verbindung zwischen Brecht und Artaud her, die Jeanne Balibar und Andreas Döhler anschließend, in der vielleicht dichtesten Szene des Abends, szenisch ausbuchstabieren: Castorf denkt auf der Folie des „Galilei“, der Wissenschaft, über das Theater nach – und kontrastiert Brechts epischen Vernunft-Entwurf mit Artauds „Theater der Grausamkeit“: Einem Theater, das das westliche, mimetische zugunsten des Ritus, der Trance, ablehnt. Und das die Bühnenkunst mit der Pest vergleicht: „Wie die Pest ist das Theater eine Krise, die mit dem Tod oder der Heilung endet“. Logisch, dass es dabei – ein übliches Castorf-Stilmittel – auch zur direkten Selbstreflexion kommt. Wolfgang Michael und Aljoscha Stadelmann, die hier als hemdsärmlige Folterknechte die katholische Kirche aus dem „Galilei“ vertreten, plaudern vor der Streckbank gern mal über „den Frank“.

Und wie steht es nun an diesem BE-Abend um das Theater, das laut Artaud im Idealfall „die Ruhe der Sinne“ aufstört? Castorf ist sicher nach wie vor der Theatermacher mit den inspirierendsten Text-Konfrontationen, den überraschendsten Blickwinkeln. Aber am BE, dessen Spieler (noch) nicht so Castorf-erprobt sind, merkt man deutliche Energieschwächen. Und nach der Pause, in den letzten zweieinhalb Stunden, erreicht das geliebt-gefürchtete, ausufernde Mäandern selbst für Castorf-Verhältnisse noch einmal eine neue Strapazendimension.

Nächste Vorstellungen am 26. und 27. Januar

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