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Farben, fingerdick. Seit 1954 arbeitet Frank Auerbach in einem winzigen Atelier in Camden Town im Norden Londons.

© Picture Press/Camera Press/Barry

Frank Auerbach wird 90: Aus dem Buch des Lebens

Als Kind konnte Frank Auerbach 1939 aus Berlin fliehen. Heute ist er einer der großen britischen Maler. Jetzt wird er 90. Eine Gratulation.

Die schwere Holztür fällt ins Schloss. Drinnen nobler Stuck der Jahrhundertwende, draußen Frühling. In der Güntzelstraße wollen die ersten grünen Blätter der Straßenbäume raus ins Freie. Damals, im April 1939, standen sie noch nicht hier vor dem hohen weißen Mietshaus mit der Nummer 49. Sie sind zu jung, Nachkriegsgewächse. Frank Auerbach war sieben, als seine Eltern ihn nach Hamburg begleiteten.

Die weitere Reise trat er ohne sie an, nur mit einem Koffer voll Kleidung. Am 4. April bestieg er ein Schiff, das ihn nach England in Sicherheit brachte. Die in Italien lebende Schriftstellerin Iris Origo hatte die Rettung für eine Handvoll jüdischer Kinder bezahlt und auch ihren weiteren Unterhalt sichergestellt. Auerbachs Eltern wurden 1943 in Auschwitz ermordet.

Es ist eine Gegend mit vielen Stolpersteinen im Gehweg, hier am Rand des jüdisch geprägten Bayerischen Viertels. Vor Auerbachs Geburtshaus erinnern 23 an die Verschwundenen und von den Nazis Umgebrachten.

Nie zurückblicken, immer vorwärts, Bild für Bild, Tag für Tag. Längst ist der 1931 in Wilmersdorf geborene Frank Auerbach ein international berühmter Künstler, mit Francis Bacon und Lucian Freud wird er in einem Atemzug genannt.

Im London der 1950er Jahre stellten sich die befreundeten Maler eigensinnig dem weltweit vorherrschenden Trend der Abstraktion entgegen, wollten partout nicht vom Figürlichen lassen und schufen gerade damit eine Malerei, die provozierte. Jedes Interesse an seiner persönlichen Geschichte hat Auerbach ein Leben lang entschieden abgewehrt. Seine Bilder sollen für sich stehen.

Marcel Reich-Ranicki war sein Babysitter

Überhaupt vermeide er „all das Nagen an der Vergangenheit“, gab er einmal zu Protokoll. Die bewusste Verdrängung bewährte sich als Überlebensstrategie. Das wenige, was über Auerbachs Kindheit publik wurde, steht in Marcel Reich-Ranickis Autobiografie. Der ältere Cousin wohnte damals in der Güntzelstraße nur drei Häuser weiter. Eine Gedenktafel erinnert an den Literaturkritiker. Manchmal habe er abends als Babysitter auf den kleinen Frank aufgepasst, auch um in der üppigen Bibliothek dort zu schmökern. Auerbachs Mutter hatte Kunst studiert, der Vater arbeitete am häuslichen Schreibtisch als Patentanwalt.

Eine behütete Kindheit. Als Anwälten ab 1933 von den Nazis die Zulassung entzogen wurde, stand auf der Messingtafel am Hauseingang nur noch „Max Auerbach. Diplomingenieur“. Zu diesem Zeitpunkt hatte George Grosz sein Atelier, ums Eck in der Trautenaustraße 12, bereits in Richtung USA verlassen. Ob sie sich je über den Weg gelaufen sind?

Der Maler erinnert sich, dass er als Junge nicht allein nach draußen in den Park neben dem Haus laufen durfte. An welches Stadtgrün denkt er? Auf dem nahen Nikolsburger Platz an dem von Blumenrabatten gesäumten Gänselieselbrunnen spielen Kinder einer deutsch-spanischen Kita, vor der Cecilienschule plaudern Jugendliche brav mit Corona-Abstand. 1933 war die Hälfte der Schülerinnen jüdisch.

Er kennt seit Jahrzehnten nur zwei Motive

In den Zwanzigern trafen sich hier Emil und die Detektive zur fiktiven Verbrecherjagd. Frank Auerbach nahm die Erinnerung an einen anderen Berliner Kinderbestseller mit nach England: „Kai aus der Kiste“ von Wolf Durian erzählt von einem Berliner Straßenjungen, der sich in einer Holzkiste mitten ins Hotelzimmer eines gerade angekommenen amerikanischen Schokoladenfabrikanten spedieren lässt, um dann als Reklamegenie durch die Stadt zu flitzen. Auerbach hat Berlin nie wiedergesehen.

In Kent fand der Junge, wie viele jüdische Kinderflüchtlinge, Aufnahme im Internat Bunce Court School der deutschen Reformpädagogin Anna Esslinger, wo auch britische Sprösslinge eine vielseitige, anspruchsvolle Bildung bekamen.

Als junger Kunststudent schlug er sich in ausgebombten London mit Aushilfsjobs durch: „Es lag ein seltsames Gefühl von Freiheit in der Luft, weil alle, die dort lebten, auf irgendeine Weise dem Tod entkommen waren.“ Seit er 1954 ein winziges Atelier in Camden Town im Norden Londons bezog, hat er es nicht mehr gewechselt. Wozu auch? Es wurde zum Gravitationszentrum einer beharrlichen künstlerischen Suche nach Bildern, die es zuvor so nie gab.

Frank Auerbach kennt seit Jahrzehnten nur zwei Motive. Er malt die Wohnstraßen seiner Umgebung: Mornington Crescent, den nahen Park Primrose Hill. Außerdem Porträts von Menschen, die ihm persönlich vertraut sind. Er fixiert sie wieder und wieder, manche über 20, 30 Jahre hinweg, ohne ihrer überdrüssig zu werden. Dabei verbraucht er Unmengen von Farbe, literweise.

Er will sich treu bleiben

Frank Auerbachs Arbeitsweise ist von erschreckender Radikalität. Er beginnt ein Bild, empfindet es als unzureichend, kratzt die feuchte Farbe ab und beginnt von vorne, auf derselben Leinwand. So kann das Monate oder Jahre gehen. Unerbittlich ist dieser Prozess, seine Selbstkritik hat etwas Zerstörerisches. Aber am Ende bleibt eben doch das Resultat eines Tages stehen: ein Bild, das Bestand hat. Wie rasch und vehement die breiten Farbspuren gesetzt sind, teilt sich den Betrachtenden unmittelbar mit. Eine enorme Lebendigkeit steckt unterschwellig in diesen Strichen, die wie Hiebe ausgeteilt werden.

Bei den Porträts ist oft kaum der Kopf auszumachen, geschweige denn oberflächliche Ähnlichkeit. Schroff weisen sie das Ansinnen ab, Genaueres zu erkennen. Sie verdichten den Moment, stemmen sich gegen die Zeit. Was er mache, solle sein wie eine „dem Buch des Lebens entrissene Seite“, so der Künstler. Diese Bilder wollen nicht gefallen, nichts läge ihnen ferner. Sich treu sein, ist Auerbachs nur scheinbar bescheidener, moralischer Anspruch.

Dabei unverzichtbar ist ihm der Austausch mit Kollegen: Tizian, Constable, Picasso, Rembrandt, Degas und anderen. In jungen Jahren täglich, später einmal pro Woche trieb es den Maler in die National Gallery, um nach ihren Werken zu zeichnen. Ansonsten verlässt er Camden Town so gut wie nie. Der Gedanke, morgens nicht ins Atelier zu gehen und zu malen, käme ihm verrückt vor, bemerkte er einmal. Urlaub macht er ohnehin nur einen Tag im Jahr.

Er bleibt eine Leerstelle in der Stadt

Frank Auerbach hat alle anderen großen Wegbereiter der figurativen Malerei nach 1945 in Großbritannien überlebt: Am 29. April, feiert er seinen 90. Geburtstag. Vielen gilt er als der größte britische Maler alive. 1986 teilte er sich den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig mit Sigmar Polke. Im Metropolitan Museum und im MoMA ist er vertreten. In seiner Geburtsstadt Berlin ist der Künstler noch immer ein Geheimtipp. Die Nationalgalerie besitzt kein Werk von ihm. In Deutschland hat allein das Städel in Frankfurt seit 2017 zwei Zeichnungen aufzuweisen.

Auerbachs große Retrospektive der Tate Britain kam 2015 nur bis ins Kunstmuseum Bonn. Für Lucian Freud, ebenfalls gebürtiger Berliner und Flüchtling vor den Nazis, bedeutete eine große Soloschau im Mies-van-der-Rohe-Bau 1988 der Durchbruch zu einer angemessenen Wiederentdeckung in Deutschland. Der befreundete R.B. Kitaj wurde 2012 im Jüdischen Museum gewürdigt.

Eine Auerbach-Ausstellung, lässt Dieter Scholz von der Nationalgalerie wissen, wäre „zwar schön“, sei aber derzeit nicht vorgesehen. Die Chance Frank Auerbach zum 90. Geburtstag endlich mit einer Ausstellung in Berlin zu ehren, wurde verpasst. Er bleibt eine Leerstelle in dieser Stadt. Berlin wartet auf Frank Auerbach. Er hat Berlin verdrängt, Berlin verdrängt ihn.

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