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Schwergewicht. Eine von mehreren Installationen Clementes aus der Serie „Watchtowers“.

© Trevor Good

Francesco Clemente bei Blain Southern: Spirit der Achtziger

Francesco Clemente, einst mit Warhol und Basquiat unterwegs, zeigt neue Arbeiten in einer Ausstellung der Galerie Blain Southern.

Groß ist der Hype um diese andere, wildere, räudigere Zeit. So wie in jüngerer Vergangenheit der Subkultur Westberlins der späten 70er und frühen 80er Jahre nostalgisch gedacht und sie in etlichen Büchern, Filmen und Ausstellungen wiederaufgeführt wurde, ergeht es derzeit auch New York.

Gerade hat Debbie Harry ihre Biografie veröffentlicht. Und Bilder von Jean-Michel Basquiat, der 1981 im „Blondie“-Video zum Song „Rapture“ auftauchte, erzielen Auktionsrekorde. Noch so eine aktuelle Buchveröffentlichung: „Warhol on Basquiat. The Iconic Relationship Told in Andy Warhol’s Words and Pictures.“ Warhol und Basquiat: in den Rückschauen erscheinen sie als Odd Couple des New Yorker Kunstbetriebs jener Tage.

Es gab da aber noch einen Dritten, der mit ihnen nicht nur um die Häuser zog, sondern immer wieder auch zusammenarbeitete, lange bevor das Prinzip der collaboration so omnipräsent war wie heute.

Woran mag es liegen, dass Francesco Clemente, der doch, anders als Warhol und Basquiat, noch lebt, in all den nostalgischen New-York-Rückblicken keine Rolle spielt? Dass er jetzt nicht der Künstler der Stunde ist?

Etwa daran, dass er noch lebt? Daran, dass er, im Unterschied zu Basquiat (und etwa auch Haring), nie wirklich abgemeldet war und sich schon deshalb nicht zur gloriosen Wiederentdeckung eignet?

Für einen Basquiat wurden schon mal 110,5 Millionen Dollar bezahlt

Vielleicht liegt die Erklärung in der Kunst selbst, über die ein Besuch in der Berliner Dependance der Galerie Blain Southern Auskunft gibt.

Die Ausstellung „Watchtowers, Gates and The Sea of Stories“ wurde von der Galerie aus dem Dallas Contemporary übernommen. Das Erste, was man sieht, woran man vorbei muss, ist eine Art Raumteiler, eine Barriere aus mehreren Elementen.

Die „Wall of Gates“ fügen sich zu mehr als zwei Meter hohen und breiten Metallrahmen, in denen rote Netze hängen, an deren Maschen große, altmodische Schlüssel befestigt sind. Das „Paradox eines Portals , welches durch ein Netz von Schlüsseln versperrt wird“, bildet die erste von drei (oder vier) Werkgruppen der Schau.

[Blain Southern, Potsdamer Str. 77-87; bis Ende Dezember, Di–Sa 11–18 Uhr]

„The Sea of Stories“ erweist sich als ausgreifende Wandarbeit, wird aber gegebenenfalls an die räumlichen Verhältnisse des Käufers angepasst. Man darf spekulieren, dass es sich um die kostspieligste Arbeit der Schau handeln muss, deren Werke zwischen 30 000 und 500 000 Dollar kosten.

Aber für einen Basquiat wurden vor zwei Jahren auch schon mal 110,5 Millionen Dollar bezahlt. Immerhin die Umrisse der Arbeit, die die zwölf Tierkreiszeichen neu interpretiert, hat der 67-jährige Clemente höchstselbst auf die Wand gezeichnet. Anschließend wurden sie von aus dem mexikanischen Oaxaca angereisten Wandmalern in traditioneller Ochsenblutfarbe koloriert.

Clemente „kollaboriert“ also weiter, wenn auch hierarchischer als seinerzeit mit Warhol und Basquiat. Während ausgerechnet die „Kollaboration“ heute so positiv begriffen wird, gilt die „kulturelle Aneignung“ als eines der heißesten Diskurs-Eisen, an dem man sich leicht die Finger verbrennt.

Und es nimmt Wunder, wenn Clemente in diesen hypersensiblen Zeiten noch keiner damit gekommen ist – so umfassend er sich traditionelle kunsthandwerkliche Techniken aus Ländern des Globalen Südens zunutze macht. Vor allem aus Indien, wo er viel Lebenszeit verbringt, im ständigen Wechsel mit Aufenthalten in New York und Europa.

Im Obergeschoss der Galerie hängen Papierarbeiten der Serie „Sex“: in handlichem Format hingeworfene Schattenrisse von Paaren beim Liebesspiel. Den kleinteiligen Hintergrund bilden weitere Paare und Landschaften, sehr sorgfältig in Rot und Blau gemalt von indischen Kunsthandwerkern.

Solche waren es auch, deren Know-how die den ersten Blick auf die an selbst gezimmerte Jagdsitze erinnernden „Watchtowers“ ermöglicht hat. Die vermeintlich aus Ästen genagelten Türmchen wurden tatsächlich aus Aluminium gegossen.

Hang zum Spirituellen

Darauf hat Clemente Merkwürdiges gestellt, Fundstücke: einen goldenen Vogelkäfig, einen Korb mit einer angelehnten Leiter, eine würfelförmige Kiste mit großem Schlüsselloch, einen goldenen Ghettoblaster – aus dem New York der 1980er? Nein, wie alle Fundstücke, aus dem Rajasthan der Gegenwart.

Die Büste eines kahlköpfigen Mannes, dessen Augen, Ohren, Nase und Mund über schwere Ketten mit am Boden liegenden Gewichten verbunden ist, erklärt der Titel („Self-Portrait Watchtower“) ebenso zum Selbstporträt des Künstlers wie den Turm „Self and Other“:

Über zwei Rädern verläuft ein Seil, an dessen einem Ende ein weiterer Clemente-Kopf knapp über dem Boden baumelt, während auf der anderen Seite der Abguss eines traditionellen indischen Musikinstruments auf dem Boden steht.

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Was mag es mit den „Watchtowers“ auf sich haben? „Auf diesen werden Opfergaben oder Geschenke präsentiert - auf einer erhöhten Ebene, um ‚der kommenden Flut zu entgehen“, hat Clemente dazu geschrieben.

Auf seine religiöse Orientierung angesprochen, teilt die Galerie mit, der Künstler sei „spirituell“. Francesco Clemente wird der Transavanguardia/ Transavantgarde zugeordnet, deren Vertretern eine ausgeprägte Vorliebe für Mystik, Mythologie und archaische Artefakte nachgesagt wird. Tatsächlich wären die „Watchtowers“ im production set von „Game of Thrones“ wohl nicht weiter aufgefallen.

Vielleicht liegt die Erklärung tatsächlich in der Kunst selbst. Der grafisch-kühle Stil eines Warhol; die farbwuchtige, von Graffitis durchsetzte, ausdrucksvoll gestische Malerei eines Basquiat - das entspricht doch viel mehr dem Bild, das wir uns von den 1980ern machen. Machen wollen.

Vielleicht ist es dem – spirituellen – Francesco Clemente aber auch ganz recht, nicht Teil eines Hypes zu sein, der, wie jeder Hype, irgendwann zu Ende ist. Spätestens mit der kommenden Flut.

Jens Müller

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