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Der Familienvater. August Strindberg mit seinen Kindern, eine Aufnahme aus dem Jahr 1896. Foto: dpa

© picture-alliance/ dpa

Kultur: Fräulein Auguste

Er beschimpfte die Frauen und war der erste Feminist. Mit Talenten war er reich gesegnet: als Dramatiker, Dichter, Maler, Fotograf und Hobbywissenschaftler, der sich nicht nur beim Goldmachen die Finger verbrannte. Vor 100 Jahren starb August Strindberg. Eine Würdigung

Auf schmerzvolle Weise war Strindberg immer auf der Höhe seiner Zeit. Und ihr vorausgeeilt. Dass dieser geniale, am schlimmsten gegen sich selbst wütende Feuerschädel dabei in eine Hölle von Widersprüchen stürzte, ist eine milde Untertreibung. Er war ein düsterer Charakter, ein Lichtbringer, ein Katalysator künstlerischer und gesellschaftlicher Prozesse. Man kennt ihn als misogynen Irren, der gegen das Wahlrecht der Frauen wetterte und ihnen jede höhere Intelligenz absprach. Er hat mehrere Ehen und die eigene Gesundheit ruiniert. Zur Hypochondrie neigt er ebenso wie zur Eifersucht. In seinen „Reden an die schwedische Nation“ zog er gegen den König, die Schwedische Akademie und den Nationalhelden Sven Hedin in den Krieg. Die Publikationen zur „Strindberg-Fehde“ füllen Bände. Er hat sein Intimstes entblößt und die Privatsphäre anderer verletzt, er agierte öffentlichkeitswirksam bis zum Äußersten.

August Strindberg starb am 14. Mai 1912 in Stockholm. Zu seinem Begräbnis kamen Tausende, Politiker der Regierung wie der Opposition gaben dem Dichter das letzte Geleit. Der Biograf Olof Lagercrantz spricht von einem „Volksfest“. Ein Meer von roten Arbeiterfahnen wogte um den Sarg. August Strindberg, geboren 1849, gehörte zu jener Generation von Großschriftstellern – Tolstoi, Zolà, Oscar Wilde –, die das europäische Bild vom Literaten als intellektueller, moralischer, politischer Instanz geprägt haben, bis heute. Sie haben gekämpft, und sie haben dafür bezahlt.

Strindberg litt zwar an allen möglichen Komplexen, aber den Morbus Grass (zunehmendes Alter, nachlassende schöpferische Kraft) hatte er nicht. Wenige Jahre vor seinem Tod erst schrieb er seine Hauptwerke für die Bühne, „Totentanz“ und „Traumspiel“ und die „Gespenstersonate“. Dramatische Schaffenskrisen durchziehen sein gesamtes Leben.

Aber wo beginnen, wenn einer so rastlos und untröstbar seine Existenz aufs Spiel setzt, als wäre sie eine Kugel beim Roulette? Bei den Frauen sucht er Ruhe und Halt, nur fühlt er sich zu einem modernen, selbstständigen Frauentyp hingezogen. Weibchen mag er nicht. Starke Frauen, wie er sie liebt, treiben ihn zum Wahnsinn. Die Schauspielerin Siri von Essen und die Journalistin Frida Uhl gehen die Ehe mit ihm ein – und finden sich in seinem „Inferno“ oder dem „Plädoyer eines Irren“ wieder. Letzteres war lange verboten und zensiert, erst 1973 fand sich das auf Französisch geschriebene Originalmanuskript. Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“ wirken dagegen wie ein Jugendbuch.

August Strindberg erweckt den Eindruck, dass der Geschlechterkampf sich bei ihm in einem Körper, einer Seele, einer Person abspielt. Wie ein Paar sich zerfleischen kann, dafür ist das „Plädoyer“ noch heute eine Blaupause. Wiederum haben Zeitgenossinnen sein „Fräulein Julie“ als Drama einer jungen Frau verstanden, die ausbrechen will, die vielleicht im falschen Jahrhundert geboren ist. „Fräulein Julie“ lässt sich als präfeministisches Manifest nehmen, geschrieben von einem Mann, der Frauen bei anderer Gelegenheit „Kriminelle aus Instinkt, unwissentlich bösartige Tiere“ nennt. Die Berliner Schaubühne hat Katie Mitchells Fräulein-Julie-Inszenierung mit Jule Böwe im Repertoire, ein theatralisch-filmisches Laboratorium weiblicher Fantasien.

Eine tolle Frau. Und ein wahrlich irrer Typ: Die biografische Anthologie „Madame Strindberg oder die Faszination der Boheme“ von Friedrich Buchmayr präsentiert Frida Uhl als ebenbürtige Lebenspartnerin, wenn auch nur auf Zeit. Harriet Bosse, die dritte Ehefrau, war auch Schauspielerin am Intimen Theater, das Strindberg 1907 gründet. Eine eigene Bühne in Stockholm: Es war die Erfüllung eines Traums. Harriet landet nachher im „Okkulten Tagebuch“.

Man soll nicht billig psychologisieren, aber offensichtlich erträgt dieser Mann die Erfüllung seiner Sehnsüchte nicht. Olof Lagercrantz beschreibt Strindberg als „weiblichen“ Mann, der Frauen als Konkurrenz empfunden habe. Dazu passt die bizarre Geschichte eines Bordellbesuchs in Genf, den er mit einem Arzt unternimmt. Er lässt an Ort und Stelle seinen Penis vermessen und seinen Samen untersuchen. Er besteht die Prüfung. „Klein, aber gut“. Wenn Selbstzweifel eines der ärgsten Beziehungs- und Karrierehindernisse für Frauen sind, dann, in der Tat, war August S. eine Auguste.

Die Literatur wird ihm eng. „Inferno“ (1897) dokumentiert Strindbergs Verfolgungswahn, seine irrwitzige Einsamkeit in Paris, in einer Dachkammer. Dort geht er „wissenschaftlichen Experimenten“ nach, er will Gold herstellen, die inneren Mechanismen des Universums verstehen, die Gesetze der Natur definieren. Im Zeitalter entscheidender technischer Erfindungen werkelt August Strindberg wie ein mittelalterlicher Doktor Faust, verbrennt sich die Finger und jagt einmal beinahe seine Bude in die Luft. Der Poetchemiker, wie er sich bezeichnet, sieht seltsame Zeichen und glaubt, Wunder zu vollbringen. Tatsächlich schreibt er einen atemlosen, zwischen Mystizismus und modernem Selbstzweifel glitzernden Großstadtroman, wie ein paar Jahre später Rainer Maria Rilke, ebenfalls in Paris, seinen „Malte Laurids Brigge“.

Er schreibt und forscht über Tiere und Blumen und wendet sich der Fotografie zu, mit einer selbst gebauten Kamera. Wie zart poetisch, mit welch feinem Sensorium er alles zu erfassen suchte, zeigt die von Renate Bleibtreu herausgegebene Neuerscheinung „Notizen eines Zweiflers. Schriften aus dem Nachlass“. In seiner Boheme-Phase in Berlin, um das Jahr 1893, trägt er sich mit dem Plan, ein Fotoatelier zu eröffnen. Immer hat er schreckliche Geldprobleme und die verrücktesten Ideen, seine finanzielle Situation zu verbessern. Die „psychologischen Porträts“, die er aufnimmt, zeugen von technischem Geschick und künstlerischer Meisterschaft. Schließlich beginnt er zu malen, wilde, menschenleere Landschaften, Seestücke, ins Abstrakte gehend, expressionistisch. All diese Aktivitäten hat man unter dem „anderen Strindberg“ zusammengefasst. Aber er ist immer anders gewesen. Vor allen im Theater.

Zu Lebzeiten wird er viel gespielt, zumal in Deutschland. Der große Durchbruch kommt aber erst nach seinem Tod, ausgehend von Max Reinhardts Inszenierung vom „Totentanz“ im September 1912 am Deutschen Theater Berlin. Wenn derzeit Henrik Ibsen so auffällig viel gespielt und für das beginnende 21. Jahrhundert wiederentdeckt wird, so hängt das mit der Tendenz des Theaters zusammen, die kleine Form zu kultivieren. Sich zu verpuppen, in Innenräume zu fliehen und Schutz zu suchen vor einer Welt der Überforderung und Medienüberflutung. „Das Theater heute stellt das Leben dar, es versucht durch mehr oder weniger realistische Bühnenbilder und Beleuchtung, uns die gewöhnliche Wahrheit des Lebens wiederzugeben, oder aber es kultiviert die Illusion ... und dies ist das Allerschlimmste.“ So wettert 1928 Antonin Artaud. Und ruft nach Strindberg, nach dem „Traumspiel“.

Strindberg will ins Offene, er ist das Gegenprogramm. Das Vorwort zum „Traumspiel“ (1902) liest sich wie eine Anleitung zu einer kubistischen, drogengestützten Kunsterfahrung, wie der Wunsch nach vollständiger Befreiung von irdischer Dramaturgie: „Die Personen spalten sich, verdoppeln sich, sind Double, verdunsten, verdichten sich, zerfließen, sammeln sich. Aber ein Bewusstsein steht über allem, das des Träumenden. Für dieses Bewusstsein gibt es keine Geheimnisse, keine Inkonsequenzen, keine Skrupel, kein Gesetz.“

Selten ist es dem Theater gelungen, dieses Angebot anzunehmen. Es war Robert Lepage, der 1994 am Königlichen Dramatischen Theater in Stockholm einen Weg dorthin gefunden hat. Strindbergs Text um Indras Tochter, das verlorene Götterkind, bewegt sich in zauberischen Zirkeln und Schlüssen, Lepages Bühne war ein Kubus: die Quadratur des Kreises.

Mit aller Vorsicht kann man sagen, dass Strindberg im Theater Erlösung gefunden hat. Dort hat er sie auch gesucht, auf der Bühne. In der ersten Szene des autobiografischen Dramas „Nach Damaskus“ (1898) sagt der gar nicht so „Unbekannte“ zu einer Dame, man scheint sich zu kennen oder herbeigesehnt zu haben: „Vierzig Jahre habe ich auf etwas gewartet, ich glaube, es wird das Glück genannt, oder ob es nur das Ende des Unglücks ist ... Gehen Sie nicht, gehen Sie nicht, ich bitte Sie, denn mir wird bange, wenn Sie gehen.“

Zum Raum wird hier die Zeit, die vielleicht noch gar nicht angebrochen ist.

Neuerscheinungen: „Madame Strindberg oder die Faszination der Boheme“ von Friedrich Buchmayr (Residenz Verlag, 370 S., 26,90 €.) „Notizen eines Zweiflers. Schriften aus dem Nachlass“, hrsg. von Renate Bleibtreu (Berenberg Verlag, 320 S., 25 €). „Vom Meer“, drei frühe Erzählungen von August Strindberg (Friedenauer Presse, 30 S., 9,50 €)

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