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Vom Schatten ins Licht. Straßenszene in New York vor der Public Library, um 1952 aufgenommen von Vivian Maier, die ihren Lebensunterhalt als Kindermädchen verdiente.

© Vivian Maier/Maloof Collection, Courtesy Howard Greenberg Gallery, New York

Fotos von Vivian Maier: Das unsichtbare Auge

Vivian Maier arbeitete als Kindermädchen in New York und Chicago. Dass sie auch fotografierte, wusste niemand. Als sie 2009 starb, hinterließ sie rund 120000 Aufnahmen. Jetzt präsentiert das Willy-Brandt-Haus das Werk der größten Unbekannten der Fotografiegeschichte. Die Ausstellung beweist, dass Maier in eine Reihe mit Straßenfotografen wie Robert Frank oder Elliott Erwitt gehört.

Sie war die Frau, die niemals lacht. Der Blick ihrer mandelförmigen, von langgezogenen Brauen überwölbten Augen geht meistens nach oben, ein wenig über den Betrachter hinweg. Ihr Mund: ein strenger Strich. Sie trägt Wollmäntel, rustikale Kleider, manchmal einen kreisrunden Hut oder eine blümchenbunte Bluse. Das Outfit einer Immerunterwegsseienden. Oft baumelt die Rolleiflex-Kamera vor ihrem Bauch. Vivan Maier hat sich mehr als dreißig Jahre lang immer wieder selbst fotografiert, am liebsten in Spiegeln oder in Schaufenstern. Sie versuchte, so hat sie es formuliert, „durch Selbstporträts meinen Platz in der Welt zu erkennen“. Doch zu erkennen gab sie sich auf keinem ihrer Bilder. Sie zeigen eine schlanke Frau mit gefrorener, streng ausdrucksloser Mimik. Die Fotografin bleibt bis heute ein Rätsel.

Vivian Maier hatte als Kindermädchen in New York und Chicago gearbeitet. Dass sie auch fotografierte, ambitioniert und professionell, wusste niemand. Als sie im April 2009 mit 83 Jahren starb, hinterließ sie Kisten, in denen ihr ganzes Leben in Form von Briefen, Kleidung und Quittungen, sogar von nicht eingelösten Schecks steckte. Und Kisten, die mit Fotos und rund sechstausend Filmen gefüllt waren, darunter zweitausend, die noch nicht entwickelt waren. Ein Lebenswerk. Und ein noch unentdeckter Kontinent. Als der Immobilienmakler John Maloof bei einer Versteigerung eine Kiste mit Maiers Negativen erwarb, war er begeistert. Und ratlos. Was machen mit all’ diesen Bildern? Er scannte zweihundert Motive, stellte sie ins Internet und bekam enthusiastische Reaktionen.

Vivian Maier – das steht heute fest – gehört zu den großen Fotografen des 20. Jahrhunderts, sie steht in einer Reihe mit Robert Frank, Elliott Erwitt oder Diane Arbus. John Maloof wurde ihr posthumer Agent, indem er Ausstellungen und Publikationen initiierte und den Kontakt zu Howard Greenberg knüpfte, dem Inhaber der größten Fotogalerie der Welt. Die Geschichte von der Entdeckung der großen Unbekannten, die auch Maloofs Dokumentarfilm „Finding Vivian Maier“ schildert, ist ein beinahe unglaubliches Künstlermelodram.

„Vivian Maier. Street Photographer“ heißt die Ausstellung im Berliner Willy-Brandt-Haus, die nun die Auferstehungssaga fortschreibt. Kuratorin Anne Morin sagt, die Retrospektive sei „wichtig, damit Maier endlich Anerkennung findet“. Zu sehen sind 120 Werke, ein kleiner Ausschnitt aus einem Œuvre von etwa 120 000 Aufnahmen. Maier hielt eine Welt fest, die in ständiger Bewegung ist. Männer mit Hut sitzen diagonal aufgereiht in einem Zug, der sie aus der Vorstadt zur Arbeit bringt. Von einigen ist bloß die Zeitung zu erkennen. Eine Szene wie aus einem Roman von John Cheever oder Richard Yates. Haben sie in der großen Stadt vielleicht auch eine Geliebte? An der 108th Street in New York passieren Frauen mit Einkaufstaschen einen offenen Hauseingang. Ein Junge rollt einen Autoreifen vorbei. Diebesgut?

Eine geheimnisvolle Frau. Vivian Maier im Selbstporträt.
Eine geheimnisvolle Frau. Vivian Maier im Selbstporträt.

© Vivian Maier/Maloof Collection/Howard Greenberg Gallery

Es geht immer vorwärts, nur vor der roten Ampel atmen die Menschen durch. Schüchtern halten Mann und Frau Händchen. Er trägt eine verknitterte Sommerhose, sie ein gestreiftes Kleid mit breitem Gürtel. Eine Dame im Pelz umklammert Einkäufe. Maiers Fotos sind zeithistorische Dokumente, sie fügen sich zu einer Geschichte des urbanen Alltags in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. „Ich bin eine Art Spionin“, so hat Vivian Maier sich selbst beschrieben. Ihre erste Kamera erwarb sie 1952, und weil sich bei der Rolleiflex der Sucher auf der Oberseite befindet, konnte sie Blickkontakt beim Fotografieren vermeiden und unbemerkt arbeiten.

Alle präsentierten 120 Fotos – das ist das Wunder dieser Ausstellung – sind von nahezu makelloser Qualität. Maier besaß ein Gespür für den „entscheidenden Augenblick“, von dem Henri Cartier-Bresson sprach, dem Moment, an dem sich die Zufälligkeiten einer Straßenszene zur perfekten Komposition vereinen. Und sie hatte den Blick für Motive, die schnell übersehen werden. An einer New Yorker Straßenecke steht ein verkohlter Sessel und qualmt noch. Unter kurzen Hosen erscheinen die knochig-fahlen Beine von ein paar Jungs, ihre Oberkörper sind weggeschnitten. In Chicago hat sich eine Menschenmenge vor einem Walgreens-Drugstore versammelt. Kinder halten Luftballons, die für „WGN Television Channel 9“ werben. Ein älterer Mann wirft einen giftigen Blick in die Kamera.

Vivian Maier verfolgte die zeitgenössische Fotografie, im Museum of Modern Art besuchte sie 1955 die epochale „Family of Man“-Ausstellung. Aber sie hat sich nie darum gekümmert, selber auszustellen oder etwas zu publizieren. Warum? Sie wird als verschlossen und misstrauisch beschrieben, ihren Beruf ergriff sie wohl auch deshalb, weil Mutter und Großmutter Kindermädchen waren. „Fotografie war für sie eine Möglichkeit, in Beziehung mit der Welt zu treten“, glaubt Kuratorin Morin. Ausgerechnet die introvertierte Maier machte großartige Porträts. Einen New Yorker Kioskbesitzer hat sie beim Nickerchen festgehalten. Um ihn herum hängt die schreiend laute Welt von „Life“, „Bugs Bunny“ und „Variety“.

Willy-Brandt-Haus, bis 12. April, Di–So 12–18 Uhr. Bei Schirmer/Mosel erschien „Vivian Maier. Das Meisterwerk der unbekannten Photographin“, 288 S., 58 €.

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