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Gefilmt und gemalt. Alphonse de Neuvilles Gemälde „Die letzten Patronen“ (1873) zeigt dieselbe Szene aus dem 1870/71er Krieg wie Alexandre Promios Film „ Die letzten Patronen (1897).

© Institut Lumière, Musée de la dernière cartouche

Fotografie, Impressionismus – Kino?: Wie die Filmkultur aus der Malerei entstand

Eine Ausstellung im Pariser Musée d’ Orsay zeichnet in über 400 Objekten die Geburt des Kinos im 19. Jahrhunderts nach.

Als die Gebrüder Lumière 1895 in Paris ihre ersten Filme zeigten, kündigten sie sie als „bewegte Fotografien“ an. Damit ist über die Herkunft des Films alles gesagt; und dies nicht einmal im übertragenen Sinne, sondern wortwörtlich, besteht doch der herkömmliche Kinofilm aus unendlich vielen, einzelnen Fotografien, deren schneller Durchlauf durch den Projektionsapparat im menschlichen Auge (und Hirn) die Illusion eines bewegten Bildes erzeugt. Kulturhistorisch gesehen, reichen die Wurzeln des Films weiter als nur bis in die Fotografie. Das Kino tritt das Erbe an von Varieté und Zirkus, von Horrorkabinetten und Monstrositäten. Es war in seinen Jugendjahren mehr denn je danach ein Unterhaltungsmedium, ein Vergnügen für die Massen.

Das Pariser Musée d'Orsay als Museum des 19. Jahrhunderts ist prädestiniert, eine Ausstellung weniger zur Geschichte des Films als zu dessen kulturhistorischer Einbettung zu machen. „Endlich Kino!“ versammelt rund 400 Objekte, vor allem aus dem Bereich der bildenden Kunst und der Fotografie, aber ebenso an historischer Technik und an jenen ephemeren Dingen wie Plakaten und Handzetteln, die die Frühzeit des Kinos begleiten.

Die herkömmliche Trennung von E und U, von Hochkunst und Alltagskultur, spielt keine Rolle, aber nicht um der Einebnung der Unterschiede willen, sondern um sichtbar zu machen, wie sehr die Hochkunst von dem Drang nach – wie sich zeigen sollte, kinematographischen – Effekten durchdrungen ist. Die Ausstellung schaut gewissermaßen umgekehrt durch ein Fernrohr, nicht mehr hinauf zur E-Kunst, sondern hinab zur Gleichartigkeit der Wahrnehmung. Denn das Kino, so das Leitmotiv der von Kurator Dominique Paini erarbeiteten Ausstellung, ist weniger ein technisches Medium als eine Form der Wahrnehmung.

Und diese Wahrnehmung wandelt sich im 19. Jahrhundert. Natürlich muss auch hier das zu Tode zitierte Wort Charles Baudelaires vom „modernen Leben“ herhalten, das durch „das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige“ gekennzeichnet sei, wie es der Dichter und Essayist entschlüsselt hat. Bezeichnend aber ist, dass Baudelaire seinen Aufsatz bereits 1863 niederschrieb, ein gutes Jahrzehnt vor der ersten Ausstellung der Impressionisten, die gemeinhin mit dieser Art von Moderne identifiziert werden. Die Impressionisten wiederum, und auch das ist hier von Belang, stellten 1874 im riesigen Atelier des erfolgreichen Fotografen Nadar aus und ließen so bereits bei ihrem Erstauftritt erahnen, welcher Wahrnehmungsweise sie sich verpflichtet fühlten.

Es wäre einfach, eine Linie zu ziehen vom Aufkommen der Fotografie – die 1839 in der Pariser Akademie der Wissenschaften vorgestellt worden war – über den Impressionismus zum Kinofilm. Aber es wäre ein Kurzschluss. Die Ausstellung im Musée d'Orsay mäandert vielmehr zwischen Objekten, künstlerischen Stilen, technischen Erfindungen und macht deutlich, wie das 19. Jahrhundert im Ganzen in Bewegung gerät. Der Besucher kommt sich vor wie auf einem zunehmend schwankenden Schiff.

Die originale Szene aus dem 1870/71er Krieg von Alexandre Promios Film „ Die letzten Patronen (1897).
Die originale Szene aus dem 1870/71er Krieg von Alexandre Promios Film „ Die letzten Patronen (1897).

© Institut Lumière, Musée de la dernière cartouche

Ob nun der Maler Claude Monet die Kathedrale von Rouen zu unterschiedlichen Tageszeiten und -stimmungen malt oder eine Fotoserie den Bau des Eiffelturms nach Art eines Daumenkinos ablaufen lässt, stets löst sich das Feste auf, zugunsten von Augenblicken, die sich mehr oder minder planvoll aneinander reihen. Die unterschiedlichsten Vorläufer des Kinos kommen auf, Dio- und Panoramen, dazu Vorrichtungen zur Betrachtung von parallelen Bildern, zur Überblendung und zum Bewegtbild. Die Wissenschaft hält Schritt: Étienne-Jules Marey erforscht seit den 1870ern dem menschlichen Auge ununterscheidbare Bewegungsabläufe mit seiner „Chronophotographie“ und erhält eine Professur am noblen Collège de France. „Hoch“ und „niedrig“ sind stets beieinander.

[Paris, Musée d'Orsay, bis 16. Januar. Katalog 49 €. Besuch mit Zeitfenstertickets unter www.musee-orsay.fr]

Louis Daguerre, der die von ihm zur Anwendungsreife gebrachte Fotografie mit seinem Namen als „Daguerreotypie“ bezeichnete, hatte mit einem Kollegen nach 1820 als Dioramenmaler begonnen, und von diesen beiden stammt das Gemälde des Campo Santo in Pisa, das durch rückwärtige Beleuchtung den Eindruck eines Tagesablaufs vermittelte – ein wunderbares Fundstück. Die Malerei nimmt immer mehr die Perspektive der Fotografie ein und sucht Bewegung im dramatischsten Moment einzufangen. Ein Bild wie „Die letzten Patronen“ von Alphonse de Neuville, eine heroische Szene von 1870/71, die das Trauma des verlorenen Krieges überwinden hilft, wirkt nicht nur wie ein einzelnes Filmbild, sondern gibt umgekehrt die Vorlage zu gleich mehreren frühen Filmen, die eben diese Szene in ihrem Ablauf nachstellen. Die Kunst, so Kurator Paini, nimmt das kinematographische Erlebnis um Jahre vorweg.

Das Kino entwächst den Kinderschuhen

Die Kunst muss sich aber sputen, um den Anschluss an die zunehmend ausgefeilteren Sensationen der Unterhaltungsindustrie nicht zu verlieren. Die Ermordung des Revolutionshelden Marat, einst als einsame Tat beschworen, wird bei Jean-Joseph Weerts 1880 zu einem regelrechten Wimmelbild. Den Alltag der industriellen Welt malt Jules Adler, als ob er eine Kamera mitten in den Strom der proletarischen Massen hielte. Nun kommen um 1896 erste Kurzfilme auf; sie demonstrieren Bewegung anhand von spielenden Schulkindern, der Entladung eines Frachtschiffs, von Akrobaten bei der Bildung einer Pyramide aus Leibern. Da ist der Film ganz bei seinem Ursprung im Zirkus.

Der „Voyeur“ kommt als Begriff um 1880 auf, und wiederum ist die Kamera das passende Medium: Sie blickt buchstäblich durchs Schlüsselloch auf nackte, sich räkelnde Körper. Sie entdeckt ebenso das verborgene historische Ereignis, am liebsten Attentate, und natürlich schweift sie in die Ferne, von wo sie Bilder von Karawanen oder Erdölfeldern mitbringt. Die ersten Vorführungen finden im Varieté statt, als Teil eines Programms mit Clowns und Akrobaten. Um 1906 schließlich verfestigt sich der Film und erhält eigene Abspielorte. Das Spektakel vor zufälliger Menge, wie auf dem Rummelplatz, weicht der geregelten Vorführung vor zahlendem Publikum. Das Kino entwächst den Kinderschuhen und wird zur gesellschaftlichen Veranstaltung, aus „U“ wird mehr „E“. Aber welchen Weg hat das Bewegtbild zurückgelegt! Fast benommen verlässt man diese bunte, die Sinne fordernde Ausstellung. Alles ist Kino.

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