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An der Grenze zwischen Jordanien und Syrien. Eine Schar Flüchtender – von insgesamt 45 Millionen weltweit.

© (c) 2017 Human Flow

Flüchtlingsdoku „Human Flow“: Ai Weiwei und das Leid der Welt

Mit seinem Dokumentarfilm „Human Flow“ versucht Ai Weiwei die Flüchtlingskatastrophe in ihrer Totalität darzustellen. Ihm gelingt ein bildgewaltiges Dokument unserer Gegenwart.

Eine der größten, erfolgreichsten, spektakulärsten Regisseurinnen der Gegenwart ist ohne Zweifel die Drohne: Grenzenloses durchsichtiges Blau, die Farbe der Unendlichkeit, Himmel und Meer ineinander, Himmel über dem Meer, weit unten ein weißer Vogel, ein schwereloser Gewohnheitsmigrant, allein, ein weltgewandter Solist, voller Küstengewissheit in vollendeter Harmonie mit den Elementen. Dazu die sphärischen Klänge eines Weltaufgangs.

Das bleibt so, gerade lang genug, um sich an dieses flügelleichte Gelingen zu gewöhnen, gerade lange genug, um ihm zu misstrauen, und dann plötzlich, weit unter dem Vogel, eine Nussschale im Meeresblau, ein Flüchtlingsboot.

Azzurro? Sogar über das Blau müssen wir umdenken. Paolo Conte könnte sein Lied von 1968 heute nicht mehr schreiben. Fernweh? Sehnsucht? Es sind andere Gründe, die Menschen inzwischen forttreiben. Und die scheinbar rettende Küste, ist sie nicht zugleich eine latent rettungslose Küste?

Ai Weiweis Produktion ist ein Superlativ von einem Flüchtlingsfilm

Während der längsten Zeit des Menschen half es, ein neues Land zu finden und es zu bestellen. Heute geht man in Wahrheit nicht mehr an einem Strand, sondern in einer Gesellschaft an Land, die einer strukturellen Überforderung gleicht. Wie viele von denen, die vor Ais Kamera den ersten Fuß auf europäischen Grund setzten, mag diese Ankunft gelingen?

Ai Weiweis Kamera? Nein, so kann man das nicht sagen. Unzählige Kameras in 23 Ländern drehten in seinem Namen dieses Superlativ von einem Flüchtlingsfilm, der nicht mehr und nicht weniger sein will als ein Porträt der weltweiten Wanderungen der freiwillig Unfreiwilligen, der unfreiwillig Freiwilligen.

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Der Mann selbst ist ein Vexierbild. Er verkörpert in persona das Prinzip unserer Hochbeschleunigungsgegenwart, ist ein Kunstunternehmer, der mit einem mitunter riesigen Stab – 200 Menschen waren es allein bei „Human Flow“ – an mehreren Projekten weltweit und gleichzeitig arbeitet. Ein Mediator also, symbolische Mitte eines Kunst-Labels. Und auch die programmatische Mitte dieses Films, der keine Mitte hat, keine haben kann, ist ohne Zweifel: Ai Weiwei.

Der eigentliche Regisseur ist der Schnittmeister

Dieser Narzissmus befremdet mitunter, etwa im Gespräch mit einem syrischen Flüchtling, dem er anbietet, die Ausweise zu tauschen: „Du bist ab jetzt Chinese!“ – Antwort: „Ja, hoffentlich!“ – „Du nimmst auch mein Atelier in Berlin?“ Der Syrer lacht, es ist ein so großartiges Lachen, ein so souverän-generöses Lachen über diese absurde Offerte an der Grenze zur seelischen Grausamkeit, dass die Szene vielleicht nur darum in die 140 Minuten von „Human Flow“ Eingang gefunden hat.

140 Minuten, gemacht aus 1000 Stunden Material! Ein gewöhnlicher Film entsteht aus 50 bis 100 Stunden. Der eigentliche Regisseur ist demnach der Schnittmeister. Der Skandinavier Niels Pagh Andersen („The Act of Killing“) hat bereits über 250 Filme geschnitten. Er erschien zu dem Treffen mit Ai Weiwei in der ruhigen Gewissheit, überhaupt keine Zeit zu haben und verließ es schließlich mit 48 Stunden Frist für die Zusage, ohne eine einzige Sequenz gekannt zu haben. Ja, es lohnt, „Human Flow“ zu sehen, er ist in der Tat ein eindringliches, bildgewaltiges Dokument unserer Gegenwart.

Der weltweiten Angst mit trotziger Güte begegnen

Ai Weiwei stelle „der weltweiten Flut aus Angst einen Akt trotziger Güte entgegen“, hat man gesagt. Er öffne „Türen in uns“. Das mag sein, selbst wenn sie längst offenstehen, durch manche muss man immer wieder gehen. Doch auch das Türen-Öffnen hat sich verändert: Wir kommen nicht mehr in einer neuen Welt an, nicht in dem Raum dahinter, wie es das Symbol des Türen-Öffnens bis eben versprach. Es ist anders: Man geht hindurch und steht wieder vor der, durch die man eben kam.

So ist auch der Film gebaut, als eine unendliche Schleife. Die Wechsel von Griechenland in den Irak, nach Malaysia, in den Gaza-Streifen oder nach Kenia und immer wieder zurück sind willkürlich. In Daab, Kenia, einem der größten Flüchtlingscamps der Welt, leben über 245 000 Menschen, die den Bürgerkriegen und der Armut in Somalia, Eritrea und dem Südsudan entkommen wollen. Immer wieder kontrastiert „Human Flow“ seine Bilder, die solche der menschlichen Not und der menschlichen Würde zugleich sind, durch Zahlen. Etwa diese: Die Bevölkerung Afrikas wird sich bis 2050 auf 2,5 Milliarden verdoppeln. Und das auf einem Kontinent, der sich schon heute kaum Halt geben kann. Und die Flüchtlingsströme weltweit werden wachsen, immer weiter wachsen, genau wie die Mauern und Zäune zu ihrer Abwehr.

Aber nicht nur Zahlen kommentieren die Bilder, auch die Dichter sprechen: „Ich fordere das Recht auf das, was man Leben nennt, das Recht des Leoparden am Quell, des keimenden Kerns in der Erde – des ersten Menschen Recht.“ So sagte es der türkische Dichter Nazim Hikmet, der 1963 starb. Aber niemand unter uns 7 564 939 866 Menschen (Stand 14. November, 11.15 Uhr) hat wohl mehr Anspruch auf einen solchen Titel; mit Friedrich Nietzsche gesprochen, gehören wir statt zu den ersten eher zu den letzten Menschen.

Das Thema Migration als Selbstsuche

An der Grenze zwischen Jordanien und Syrien. Eine Schar Flüchtender – von insgesamt 45 Millionen weltweit.
An der Grenze zwischen Jordanien und Syrien. Eine Schar Flüchtender – von insgesamt 45 Millionen weltweit.

© (c) 2017 Human Flow

Bei der Berliner Premiere von „Human Flow“ erklärte Ai Weiwei, dass sein ganzes, so schwieriges, so reiches Leben eine bis heute andauernde Suche nach sich selbst sei. Es klang im Resonanzraum seines Films seltsam deplatziert. Ich-Suche ist natürlich Migration, aber Luxus-Migration. Kein Flüchtling geht auf die Suche nach sich selbst. Und die Wahrscheinlichkeit, sich unterwegs zu verlieren und nie mehr wiederzufinden, ist mehr als groß.

Die Kamera überfliegt die Flüchtlingsunterkunft von Berlin-Tempelhof, schaut von oben in die vielen abgeteilten zur Hallendecke hin offenen Betten-Quadrate. Zum ersten Mal Ordnung statt dem endlosen Chaos der Flucht durch das zunehmend von Zäunen versperrte Europa. Aber dann steht da ein etwa zwölfjähriges Mädchen und erklärt nicht ohne Wut, dass dies hier das Schwerste sei, was sie je durchgemacht habe. Berlin-Tempelhof, das unendliche Nichts. Ihr Fazit: „Mein Leben ödet mich an!“

Jede Kindheit fordert von Neuem das Recht des Leoparden am Quell. Und sie bekommt in den Lagern, was Rilke von einem gefangenen Panther wusste: „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe/ so müd geworden, dass er nichts mehr hält./ Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe/ und hinter tausend Stäben keine Welt.“

An viel zu vielen Orten wachsen Generationen von Kindern so auf. Eins der furchtbarsten Flüchtlingslager der Welt ist wohl der Gaza-Streifen. Er hat mit die höchste Bevölkerungsdichte der Welt. Wer hier groß wird, weiß früh, was Hass ist. Nur den zu Hassenden hat er noch nie gesehen. Und dann macht uns Ai Weiweis Film zu Zeugen der Rettung eines Tigers, der durch einen unterirdischen Tunnel von Ägypten in den Gaza-Streifen kam und nun wie alle anderen hier in der Falle sitzt. Doch im Gegensatz zu den Menschen bekommt der Tiger alle Pässe, die er braucht. Und viele Hände helfen, ihn auf die große Reise in die Freiheit zu schicken: zuerst nach Tel Aviv und dann weiter nach Johannesburg.

Das Inferno der brennenden Ölfelder von Mossul

Die meisten Menschen treten ihren Weg in die Fremde in Begleitung ihres Gottes an, wie seit Urzeiten. Ohne dieses Bündnis hätte der homo sapiens, dieses Mängelwesen unter den Tieren, seinen Weg nie begonnen. Das „Seid fruchtbar und mehret Euch!“ sprach der Herr zu einer Zeit, als die Erde noch leer war. Könnte er noch einmal die Stimme erheben, vielleicht würde er anders raten. Aber die Götter sprechen nicht mehr zu uns.

Wir sehen das Inferno der brennenden Ölfelder um Mossul, die der IS in Brand setzte, als er die Stadt aufgeben musste. Wieder verloren 300 000 Menschen, die bis eben allem getrotzt hatten, den letzten Rest dessen, was einmal ihr Zuhause war. Aus den historischen Völkern sind in der modernen Welt längst Bevölkerungen geworden, und unter dem Blick der Drohne als Kamerafrau werden aus den losgesprengten Teilen bloße Populationen. Es ist eine beinahe zoologische Wahrnehmung, mitunter von irritierender Schönheit.

Wir, die Menschheit von heute, sind die viel zu vielen. Aber niemand glaube, er gehöre nicht dazu und die 65 Millionen Flüchtlinge weltweit, Tendenz stark steigend, seien die wahrhaft Überzähligen. Sie tragen nur, stellvertretend für alle, das größte Leid. Jede Minute von „Human Flow“ weiß das.

Filmstart am 16. 11.: Capitol, Cinema Paris, FT am Friedrichshain 1-5 (OmU), International (OmU), Kant Kino 1-5, Neues Off (OmU)

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