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Florian Illies' Roman "1913": Der letzte Frühling

Florian Illies liefert einen unterhaltsamen, wenn auch oberflächlichen Querschnitt durch das Jahr 1913.

Das Genre der synchronistischen Geschichtserzählung beherrschte keiner meisterhafter als Walter Kempowski. Beinahe 20 Jahre lang hat er Bände zu seinem „Echolot“-Projekt publiziert und dabei die Geschichte durch einen Menschheitschor zum Sprechen gebracht. Offizielle Verlautbarungen stehen neben privaten Tagebucheintragungen, Berühmte und Unbekannte kommen zu Wort, alte Leute und Kinder, Täter und Opfer. Florian Illies versucht in seinem neuen Buch etwas Ähnliches, aber es funktioniert nicht in gleicher Weise, denn die dort versammelten Texte haben alle nur einen Autor, ihn selbst. Er zitiert nicht aus Rilkes Tagebuch, sondern schreibt „Rainer Maria Rilke hat Schnupfen“. Einer solchen Mitteilung fehlt die Aura des Authentischen, sie ist letztendlich banal.

Ein anderer Absatz des Buches lautet „Am 25. Februar wird Gert Fröbe geboren.“ Auch die Geburtsdaten von Peter Frankenfeld, Burt Lancaster, Marika Rökk und Willy Brandt werden uns mitgeteilt. Sie alle kamen im Lauf des Jahres 1913 zur Welt. Das ist aber auch schon alles, was sie miteinander verbindet, und die Kenntnis dieser Daten ist wenig erhellend. Dieses kleine Beispiel zeigt bereits, wie Illies in seinem Buch vorgeht. Er erzählt synchronistisch, das heißt er reiht Fakten aneinander, die oftmals nichts miteinander zu tun haben, denen aber gemeinsam ist, dass alles, was der Autor berichtet, sich im Jahr 1913 zugetragen hat. Da der Autor stets selbst berichtet, entsteht aber keine Polyphonie, sondern eher ein Sammelsurium.

Vor einigen Jahren ist Philip Bloms Buch „Der taumelnde Kontinent“ erschienen. Blom schildert darin den Durchbruch der Moderne in Kunst und Literatur, in Wirtschaft und Wissenschaft in den letzten Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, einer Zeit des Übergangs, gekennzeichnet von fieberhafter Erregung, Nervosität, Expressivität und Ekstase. Die Kultur rang mit der Gegenkultur, die Zivilisation mit dem Untergang, der Wahn mit der Wirklichkeit. Zu Bloms großem Panorama liefert Florian Illies jetzt gewissermaßen die anekdotischen Zutaten.

Das Buch ist in zwölf Kapitel eingeteilt, eines für jeden Monat. Im Februar berichtet Illies vom Abriss der von Schinkel erbauten Sternwarte in Berlin, dann vom Beginn des Jahrs des Büffels im chinesischen Kalender. Anschließend ist die Rede von Franz Marc in seinem Atelier in Sindelsdorf, wo es so kalt ist, dass sogar die Katze friert, von Else Lasker-Schüler, der gestohlenen „Mona Lisa“, Rudolf Steiner und Oswald Spengler. Nach diesem anekdotischen Rundumschlag wechselt der Autor den Schauplatz und kommt auf die „International Exhibition of Modern Art“ im „Armory“, einem ehemaligen Waffenarsenal, in New York zu sprechen. Es war eine der wichtigsten Ausstellungen des 20. Jahrhunderts. Es wurden Werke von 300 Künstlern der europäischen Avantgarde gezeigt sowie zeitgenössische amerikanische Kunst. Illies bemerkt dazu: „Vielleicht kann man sagen, dass erst mit der ersten großen Armory- Show die Kunst des 19. Jahrhunderts an ihr Ende gekommen ist. Und dass damit die Moderne nicht nur in Europa, sondern global die Vorherrschaft übernahm.“

Der Autor konzentriert sich in seiner Darstellung auf die „vier Frontstädte der Moderne“ Berlin, Paris, München und Wien. Berlin, München und Wien sind die kulturellen Hauptstädte des Deutschen Reiches und der Habsburger Monarchie, jener beiden verbündeten Mächte, die im Jahr darauf dann den Krieg gegen die Entente begannen. Paris, die Stadt, in der damals Rodin, Matisse, Picasso und Chagall, aber auch das Ballets Russes, Strawinsky und Diaghilev wirkten, war eine kulturelle Metropole, die damals alles andere in den Schatten stellte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, schreibt Illies, würde es New York gelingen, Paris den Rang abzulaufen. Gleichwohl schweift der Blick des Autors zu Recht immer wieder über den Ozean, während er andererseits Orte der Moderne wie Warschau, Prag oder Mailand kaum beachtet, wie überhaupt der Futurismus in seinem Buch eine erstaunlich geringe Rolle spielt.

Das besondere Interesse von Florian Illies gilt den Protagonisten der kulturellen Moderne, wobei die Schilderungen sich gerne auf deren persönliche Verbindungen konzentrieren. Zu den Glanzstücken des Buches gehört die detailfreudige Schilderung der Amour fou von Oskar Kokoschka und Alma Mahler. Aber auch die Beziehungen zwischen Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler, zwischen Franz Kafka und Felice Bauer, zwischen Karl Kraus und der Baronin Sidonie Nádherny von Borutin und vielen anderen werden bildstark thematisiert. Private und berufliche Verbindungen gingen damals oft bruchlos ineinander über. Die europäische Avantgarde war im alten Europa eine überschaubare Schar von Persönlichkeiten, die fast alle auf die eine oder andere Weise miteinander zu tun hatten. Und es gab Erscheinungen wie den Kunstsammler, Mäzen, Schriftsteller und Diplomaten Harry Graf Kessler, der in verschiedenen Ländern aufgewachsen war und sich als Angehöriger einer europäischen Gesellschaft empfand, die er bei seinen zahllosen Reisen überall vorfand, und so dazu beitrug, das Netzwerk der Avantgarde zu knüpfen.

So kommt es dann, dass bei der Uraufführung von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ im Pariser Théâtre des Champs-Élysées im Publikum Harry Graf Kessler neben André Gide, Gabriele d’Annunzio neben Claude Debussy und Coco Chanel neben Marcel Duchamp zu sehen sind. Gezeigt wurde die dritte der drei großen Ballettmusiken Strawinskys, der damals in Paris lebte. Die Uraufführung verursachte einen ungeheueren Skandal, denn das Publikum zeigte sich der musikalischen Kühnheit Strawinskys nicht gewachsen, machte aber den Komponisten berühmt.

Auch leidenschaftliche Fehden gab es natürlich in jenen Tagen. Florian Illies schildert, wie Thomas Mann am 3. Januar 1913 nach Berlin fuhr, um der Berliner Premiere von „Fiorenza“, seinem einzigen Theaterstück, beizuwohnen. Abends sitzt er, nichts Gutes ahnend, im Deutschen Theater: „Irgendwann erlaubt sich Mann einen verstohlenen Blick über die linke Schulter. Dort, in der dritten Reihe, entdeckt er Alfred Kerr, dessen Bleistift über den Notizblock rast. Tief ist das Dunkel im Zuschauerraum, und doch meint er auf den Zügen Kerrs ein Lächeln zu erkennen. Es ist das Lächeln des Sadisten, der sich freut, dass ihm diese Inszenierung schönsten Stoff zum Quälen bietet.“ Kerr verriss das Stück anderntags gnadenlos. Florian Illies schildert die Geschichte in allen Details und versäumt auch nicht den Hinweis, dass einst auch Alfred Kerr ein Auge auf Katia Pringsheim geworfen hatte, die nun schon länger mit Thomas Mann verheiratet ist. Solche Passagen liest man mit Gewinn, sie gehören zu den besten, so wie auch die Geschichte der gestohlenen und schließlich wieder gefundenen „Mona Lisa“, die der Running Gag des Buches ist.

Das Buch hat im Grunde genommen dort seine Stärken, wo der Autor sein Strukturprinzip über Bord wirft und richtige Geschichten erzählt. Bei den dem kalendarischen Zufall geschuldeten Informationshäppchen dagegen ist der Erkenntnisgewinn für den Leser häufig eher gering. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Eintragungen gleiten manchmal in kalauernde Wortspiele ab und die gezogenen Parallelen überzeugen nicht immer, wenn wir etwa erfahren, dass im Juli 1913 sowohl Egon Schiele als auch der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand mit einer Modelleisenbahn gespielt haben.

Florian Illies verfügt über eine ungewöhnliche kulturhistorische Bildung und er ist ein eleganter Schreiber, der ein Füllhorn großer und kleiner Geschichten vor dem Leser ausschüttet. Er bietet gewissermaßen Kulturgeschichte im Talkshowformat. Man darf sich von diesem Buch nicht zu viel erwarten. Aber wenn man sich darüber im Klaren ist, worauf man sich einlässt, wird man von der Lektüre nicht enttäuscht sein, denn unterhaltsam und in vielem auch informativ ist dieser Querschnitt durch das Jahr 1913 allemal.









– Florian Illies:

1913. Der Sommer

des Jahrhunderts.

Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012. 320 Seiten, 19,99 Euro.

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