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Choreograf der Gleichzeitigkeit. Eine Szene aus Merce Cunninghams Inszenierung „Suite For Two“.

© Martin Miseré

Filmisches Denkmal in 3-D: Merce Cunningham erfand den modernen Tanz

Mit „Cunningham“ überlässt sich Regisseurin Alla Kovgan ganz dem Filmmaterial, und zeigt den Choreographen als hellseherischen Halbgott des Tanzes.

Was für europäische Kaiser das Reiterstandbild war, ist für die großen Tänzer und Choreografen des vergangenen Jahrhunderts der 3-D-Film: eine Verewigung in der dritten Dimension. Wim Wenders hat es für Pina Bausch geschafft, jetzt setzt Alla Kovgan dem Amerikaner Merce Cunningham mit ihrem schlicht „Cunningham“ betitelten Film ein Denkmal: mindestens als Halbgott des Tanzes.

Das Geräusch nackter Füße, die das Gewicht eines springenden Körpers auf einem Schwingboden abfedern, ganz ohne Musikbegleitung, ist in den Theatern der Welt längst Normalität.

Aber wie revolutionär viele Ideen waren, die heute als Stilmittel eingesetzt werden, begreift man erst, wenn man verfolgen kann, wie Cunningham mit seinen forschenden, zeitgenössischen Stücken in zuvor unbekannte Dimension seiner Kunst vorstößt. Der Cunningham Trust überließ zum ersten Mal das historische Material einer Filmemacherin – und die überließ sich ganz dem Material.

Und so sehen wir nun den legendären Tänzer und Choreografen als leisen, konzentrierten Menschen, der 1953 in New York fast mittellos seine Merce Cunningham Dance Company gegründet hatte und in jeder Hinsicht an Befreiung interessiert war: der Befreiung der Bewegungen des menschlichen Körpers aus dem Korsett des Repertoires von Ballett und Tanz. Der Befreiung aus der Beschränktheit bewussten Denkens.

Aber zunächst einmal der Befreiung des Tänzers von der Musik: Denn wer sagt eigentlich, dass Tanz immer in ihrem Rhythmus stattfinden, sie bebildern muss? Bei ihm existieren Musik und Tanz als eigenständige Formen nebeneinander.

Ein Mensch muss in alle Richtungen beweglich sein

Ballett, sagt Cunningham im Film, habe die interessanteren Bewegungen für die Beine, der Modern Dance für den Oberkörper. Und wie er diesem Kanon neue hinzufügt, kann man so lange verfolgen, bis man sich fragt, wie viele bewegliche Körperteile ein Mensch eigentlich ansteuern kann. Denn für Cunningham gab es nicht nur eine dem Publikum ab- oder zugewandte Seite, ein Mensch muss in alle Richtungen beweglich sein.

So beweglich wie die Lebensentwürfe seiner Tänzer. Denn zunächst tourte die Truppe mangels einer festen Bühne wie ein große Familie eingepfercht in einem Bus durch Amerika – wenn die Leute nicht zur Avantgarde kamen, musste die Avantgarde eben zu den Leuten reisen.

Von heute aus betrachtet erscheint es geradezu hellseherisch, wie Cunningham in den Sechzigern plötzlich das Ende der Linearität ausruft: Die Dinge passierten nicht aufgereiht nacheinander, sondern simultan, erklärt er. Gleichzeitig und unverbunden.

Einem Kritiker der aufreizenden Gleichzeitigkeit auf der Bühne wird klargemacht: „Sie glauben, es ist eine Linie, aber es ist ein Feld!“ – Und: „Auch Sie können dieses Feld betreten!“

Die Inbrunst des Publikums war bemerkenswert

Bemerkenswert ist die Inbrunst, mit der damals das Publikum, das sich sogar die Mühe machte, Eier und Tomaten mit in die Vorstellungen zu nehmen, seine Abneigung ausdrückte. „Ich wünschte, es wären Äpfel gewesen, denn ich hatte Hunger“, sagt Cunningham über einen Auftritt in Paris.

Die Jahre der Entbehrungen, in denen seine Arbeit keine Förderung hatte und vor allem Unverständnis hervorrief, kann man sich erst mit dem Originalmaterial vorstellen, wenn nicht schon das Wissen um seinen sagenhaften Einfluss heute, 100 Jahre nach seiner Geburt, die Anfänge der Companie im Rückblick romantisiert.

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Cunningham lässt zu einer Stoppuhr tanzen und verweigert sich klassischen Bühnenbildern oder Kostümen: Darüber könnten die Tänzer stolpern. Cunningham arbeitet in den 60ern mit Robert Rauschenberg, vor dessen gemalten Hintergründen die Tänzer erst durch ihre Bewegungen sichtbar werden.

Sie tanzen auch durch silberne schwebende Luftkissen von Andy Warhol. Musik komponierte John Cage, Cunninghams Lebensbegegnung. Anschlussfähig ist seine Kunst über alle Disziplinen hinweg. „Im Tanz kann man genauso gut Haltung entwickeln wie überall“, sagt Cunningham. Also ist Tanz auch politische Gegenwart.

Die Begeisterung der Regisseurin Alla Kovgan ist so vollkommen, dass auch sie auf ihre Art zu Cunninghams Schülerin wird. Sie überträgt seine Prinzipien auf ihren Film, etwa die Simultaneität von nicht miteinander verbundenen Strängen in ihren Split-Screens.

Auch trifft sie die Entscheidung, möglichst wenig einzugreifen, sie vertraut Cunninghams Stimme aus dem historischen Material, wie der seinen Tänzern vertraut. Eine Stimme der Gegenwart braucht sie nicht. Was auch deshalb hervorragend funktioniert, weil der 2009 verstorbene Cunningham in seinem außergewöhnlich langen Arbeitsleben beinahe über alles schon einmal nachgedacht hat.
[In sieben Berliner Kinos (OmU)]

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