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Marion Cottilard (l.) und Charlotte Gainsbourg im Eröffnungsfilm "Les Fantômes d’Ismaël".

© Festival

Filmfestival von Cannes: Das Flimmern des Südens

Die „Phantome des Ismael“ und die azurblaue Wirklichkeit: das 70. Filmfest von Cannes eröffnet mit einem erzählerischen Vexierspiel - und im Hintergrund streiten sich Netflix und die Festivalleitung.

Von Andreas Busche

Der Einbruch der Realität in die noch frische Kinoerfahrung ist einer der eindrücklichsten Momente, die das Filmfest von Cannes für seine Besucher bereithält. Ob als Neuling oder Festival-Veteran, der Cannes-Effekt wird sich wohl nie abnutzen. Es ist daher müßig, immer wieder die Vor- und Nachteile etwa gegenüber der Berlinale abzuwägen: Die ersten Schritte aus dem Kinosaal heraus, der Übergang vom Dunkel des Grand Théâtre Lumière in die azurblaue Wirklichkeit, aufgeheizt von der schon in den frühen Morgenstunden strahlenden Mittelmeersonne, hat etwas Übergriffiges. Augenblicklich fühlt man sich vereinnahmt vom Festival, vom Kino, dem geschäftigen Treiben, das sich erst in den Seitenstraßen abseits der Croisette langsam verliert. Es fällt schwer, dem selbst auferlegten Vorsatz zur Unvoreingenommenheit Folge zu leisten.

Da ist ein Film wie Arnaud Desplechins „Les Fantômes d’Ismaël“, der das diesjährige Filmfestival am Mittwochabend eröffnet hat, vielleicht gerade der richtige Test. Desplechin ist ein kluger, umsichtiger Regisseur, der seine auf den ersten Blick einfachen Geschichten geschickt zu verschachteln versteht. In „Les Fantômes d’Ismaël“ gereicht ihm seine Raffinesse leider zum Nachteil. Französische Filme genießen in Cannes eigentlich den Heimspielvorteil. Wenn sich die einheimische Presse aber nicht mal einen Höflichkeitsapplaus abringt, sitzt man selber fast mitleidig im sich rasch leerenden Kinosaal.

Auf dem Papier liest sich „Les Fantômes d’Ismaël“ zunächst wie ein würdiger Eröffnungsfilm, mit großen Namen und einer selbstreferentiellen Geschichte – wie gemacht für ein Gala-Publikum, ohne die Messlatte zu hoch zu legen. Mathieu Almaric spielt den erfolgreichen Regisseur Ismael, der insgeheim seiner seit 20 Jahren vermissten Frau Carlotta (Marion Cotillard) nachtrauert. Seine Freundin Sylvia (Charlotte Gainsbourg) kann diese Leere nur unzureichend füllen. Die Gefühlslagen verkomplizieren sich, als die offensichtlich labile Carlotta plötzlich wieder im Leben von Ismael und Sylvia auftaucht.

Desplechin versucht sich an einer Dramaturgie zwischen Fiktion, Traum und Realität, die einem Vexierspiel gleichkommt. Die fließenden Übergänge bleiben so lange interessant, wie sich die Zusammenhänge nicht erschließen. Doch sobald die Konstruktion der Geschichte (ein Film-im-Film) offensichtlich wird, verliert das Changieren der Erzählebenen schnell seinen Reiz. Nur dauert der Film danach immer noch ein Dreiviertelstunde. Wer hier wessen Heimsuchung verkörpert, das bleibt bis zum konfusen Schluss unklar, Etwas ratlos steht man dann in der Sonne – wie gesagt, eine gute Gelegenheit, die eigene Wahrnehmung für die nächsten zehn Tage zu eichen.

Ein diskreter 70. Geburtstag

Der etwas mühselige Auftakt täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass sich Cannes in diesem Jahr besondere Mühe gibt. Das Festival feiert seinen 70. Geburtstag, diskret zwar, aber es gönnt sich zum Jubiläum ein paar Programmpunkte als Gelegenheiten, um zurückschauen, aber auch um einen Blick in die Zukunft des Kinos zu wagen.

Denn Cannes 2017, das ist nicht zuletzt ein Stelldichein langjähriger Weggefährten. David Lynch kehrt mit einem Appetizer für seine neue „Twin Peaks“-Staffel an die Croisette zurück. Das freut den Fan, noch interessanter klingt jedoch Abbas Kiarostamis posthum vollendeter Film „24 Frames“, ein Kompendium von vier halbminütigen Kurzfilmen, die um fünf Gemälde und 19 Fotografien herum entstanden sind. Es war die erste und letzte digitale Arbeit des iranischen Altmeisters.

Mit der Virtual-Reality-Installation „Carne Y Arena (Virtually Present, Physically Invisible)“ des Oscar-Preisträgers Alejandro González Iñárritu und seines Stamm-Kameramanns Emmanuel Lubetzki erobert die Wirklichkeit dann das Kino zurück. Die Installation will den Betrachter in die Lage versetzen, die Grenzerfahrung von Geflüchteten nachzuvollziehen : so versprechen es die Filmemacher. Mal sehen – vielleicht sollte man vom Kino keine endgültigen Antworten auf die ganz großen Fragen erwarten.

Eine der entscheidenden Fragen des Festivals betrifft die Zukunft des Kinosselbst. Kurz vor der Eröffnung eskalierte der bereits länger schwelende Streit zwischen der Festivalleitung und Netflix und führt sogar zum Ausschluss des Streaminganbieters und -produzenten im kommenden Jahr.

Der Hintergrund: Netflix weigert sich – im Gegensatz etwa zu HBO und Amazon, die in diesem Jahr mit Todd Haynes’ „Wonderstruck“ um die Goldene Palme konkurrieren –, seine exklusiven Produktionen in die Kinos zu bringen. Aber Cannes besteht darauf, wer im Wettbewerb läuft, muss danach einen regulären Kinostart hinlegen. Mit Noah Baumbachs „The Meyerowitz Stories“ und „Okja“ von Regisseur Bong Joon-ho („Snowpiercer“) laufen diesmal gleich zwei Netflix-Produktionen im Wettbewerb. Im Kern geht es bei dem Streit um die künftige Rolle von Filmfestivals im digitalen Zeitalter – und um deren Selbstverständnis.

Don Quixote verteidigt die Kinokunst

Cannes-Chef Thierry Frémaux sieht sich dabei anscheinend in der Don-Quixote-Rolle des Verteidigers der Kinokunst. Eine löbliche Haltung, die jedoch an der Realität der Filmindustrie wie an der Distribution von Filmen im 21. Jahrhundert vorbeigeht. Hinter der Auseinandersetzung, in der Frémaux jetzt ein Machtwort gesprochen hat, stecken allerdings auch knallharte wirtschaftliche Interessen.

In Frankreich gibt es – zum Schutz der Kinobranche – sehr große Veröffentlichungsfenster: Filme, die im Kino herauskommen, dürfen frühestens nach drei Jahren auch über Video-on-Demand angeboten werden. Mit einem Kinostart, wie die Cannes-Regularien ihn demnächst verlangen, würde Netflix also sein eigenes Geschäftsmodell untergraben. Bislang hing die Attraktivität von Cannes nicht zuletzt mit dem guten Verhältnis der Festivalleitung zu Hollywood zusammen. Angesichts des schwindenden Einflusses der amerikanischen Filmbranche auf hochwertiges Arthousekino sollte Frémaux seine Prinzipien vielleicht überprüfen. Die Streamingdienste sind nicht die Feinde der Cinephilie, sondern in etlichen Fällen auch ihre Komplizen.

Poller vor dem Festivalpalast sind als Blumenkübel getarnt.
Poller vor dem Festivalpalast sind als Blumenkübel getarnt.

© REUTERS

Von solchen Grundsatzdebatten ist das deutsche Kino in Cannes nicht betroffen. Man freut sich stattdessen darüber, dass es mit Fatih Akins Rachedrama „Aus dem Nichts“ zum zweiten Mal hintereinander ein deutscher Film in den Wettbewerb geschafft hat. Akin ist ein alter Bekannter in Cannes, vor zehn Jahren trat er mit “Auf der anderen Seite” an und gewann eine Palme für sein Drehbuch. Der zweite deutsche Film in Cannes ist „Western“ von Valeska Grisebach, produziert von Maren Ades Berliner Firma Komplizen Film. Es geht um eine Gruppe deutscher Bauarbeiter in der bulgarischen Provinz – das Werk läuft in der renommierten Reihe „Un Certain Regard“.

Möglicherweise hat der Erfolg von Maren Ades „Toni Erdmann“ das Ansehen des deutschen Kinos in Cannes also tatsächlich aufgewertet, auch wenn die Vater-Tochter-Tragikomödie bei den Palmen letztes Jahr leer ausging. Einen Namen hat Ade hier jetzt trotzdem: Sie sitzt in der Jury unter Pedro Almodóvar, neben den Hollywoodstars Jessica Chastain und Will Smith, den Regie-Kollegen Paolo Sorrentino und Park Chan-wook und der chinesischen Schauspielerin Fan Bingbing. Deren Pressekonferenz klang vielversprechend, kündigte Will Smith doch einen kleinen Jury-Eklat an. Ein Witz? Skandale gehören zum Filmgeschäft. Solange es sich nicht um vertauschte Umschläge handelt.

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