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Filmfestival: Das Gesetz des Stärksten

Highlights beim Festival Cannes: Filme von Ang Lee, Johnnie To und Jacques Audiard. Sein Knast-Film ist ein Anwärter auf die Goldene Palme, Lee macht Laune mit einer Hommage auf Woodstock.

Da steht er, mitten im Kugelhagel, minutenlang ungedeckt. Da zeigt die Kamera in Zeitlupe, wie er einen Gegner nach dem anderen niederstreckt. Da zoomt sie sich lustvoll heran an das faltige, fuchsäugige Gesicht eines Weltberühmten: Johnny Hallyday spielt, todernst wie immer, „Ein Vater sieht rot“ in Macao. Und das Publikum? Statt gebannt im Sessel abzutauchen, wechselt es vom Dauerkichern in ein befreites Lachen über.

Johnnie Tos „Vengeance“ mochte, als Superstar-Vehikel für Johnny Hallyday, bei der Gala am Sonntagabend in Cannes Eindruck machen; bei der morgendlichen Pressevorführung ging der jede geistige Regung sorgsam vermeidende Film um einen Pariser Gastwirt mit Gehirndefekt, der sich verblüffend unbesiegbar in die Welt der Hongkong-Triaden verirrt, mit Aplomb unter. Nicht nur, weil man der schon tags zuvor auf vielen Leinwänden gezeigten Bleikugelgewitter, Blutfontänen und herumfliegenden Leichenteile etwas überdrüssig geworden war. Sondern weil „Vengeance“ der – hoffentlich – einzige grottenschlechte Genrefilm im diesmal genreverliebten Wettbewerb bleibt.

Die eigentliche Fallhöhe markiert dagegen Jacques Audiards „Un prophète“, der erste Palmen-Favorit. Als Gefängnisfilm, der spannend vom Aufstieg des jungen Malik (Tahar Rahim) zum Profi-Kriminellen erzählt, ist auch er ein Genre-Produkt – und viel mehr als das. Denn Malik, der als Knast-Novize von seinem Mithäftling und korsischen Boss Cesar Luciani (Niels Arestrup) gleich zu einem Mord gezwungen wird, hat ein Gewissen. Der Tote, der ihm immer wieder als Vision erscheint, spornt ihn an, die eigene Intelligenz zu nutzen und sich, zwischen der korsischen und der arabischen Gang lavierend, behutsam aus dem Griff des so zynischen wie gewalttätigen Cesar zu befreien. Maliks erlösender Sieg, so clever kann Genre sein, ist kein dröhnender Showdown, sondern von markerschütternder Beiläufigkeit.

Die anfängliche Einsamkeit des halbwüchsigen Kleinkriminellen, die sexuelle Gewalt, das Gesetz des Stärksten, das korrupte Gefängnispersonal: All diese genregesättigten Vorstellungen nutzt Audiard – und baut sie, ein Stück näher an der Realität, unerhört nuancenreich neu zusammen. Als Malik nach sechs Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird, sind zweieinhalb Kinostunden vergangen wie ein atemloser Augenblick: ein auf der Richterskala eher kleines Erdbeben, das aber auf dem gut sortierten Klischee-Regal allerhand durcheinander bringt.

Der Knast ist die Hölle, okay, aber wie ist erst die Welt da draußen, etwa die eines frisch verheirateten Kripo-Auszubildenden in Manila? Wenn gesetzlos bereits die sind, die die Einhaltung der Gesetze überwachen sollen? Der philippinische Regisseur Brillante Mendoza liefert mit „Kinatay“ (Massaker) den Schocker dieses Cannes-Jahrgangs. Vergangenes Jahr verstörte er mit „Serbis“, einer lärmenden, nahe am cinéma verité siedelnden Alltagsstudie um eine Familie, die ein Pornokino betreibt. In „Kinatay“ nun stürzt er sein Publikum, mit Handkamera und langen Passagen in Realzeit, in den gespenstisch unauffällig anhebenden Albtraum einer Nacht.

Die Operation, zu der der Polizeischüler Peping (Coco Martin) mitgenommen wird, ist ein filmisches Protokoll aus der Zeugenperspektive, vom Abend bis zum frühen Morgen. Fünf Polizisten kidnappen eine drogensüchtige Prostituierte, die ihnen Geld schuldet, vergewaltigen und töten sie in einem düsteren Vorortkeller und werfen die in Plastiktüten verpackten Leichenteile aus dem fahrenden Kleinbus. Abgesehen vom entsetzten Peping, der sich an Vergewaltigung und Mord nicht beteiligt, hat niemand Skrupel. Doch auch er macht sich schuldig: Am Morgen nimmt er das Schweigegeld seines Chefs entgegen.

Wie Audiard erzählt Mendoza von der Initiation in ein Universum der Gewissenlosigkeit – und damit eine moralische Geschichte. „Kinatay“, der die Gewalt nur aus einiger Entfernung zeigt, ist kein Slasher-Movie, sondern prangert in fast dokumentarischem Habitus einen Staat an, der bis zum Exzess sein jeglicher Strafverfolgung entzogenes Gewaltmonopol durchsetzt. So geht es, gibt Mendoza zu verstehen, in Schwellenländern zu, in denen Demokratie allenfalls auf dem Papier steht. Drumherum mag sich die globalisierte Moderne austoben, die nur scheinbar alle Unterschiede einebnet: Hondas, Handys, Hochhaus-Baustellen.

Ungleich stiller, doch nicht weniger wirkungsvoll, lenkt Corneliu Porumboiu den Blick in jenes Rumänien, das dem Kinogänger seit Cristian Mungius Cannes-Sieger „4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage“ vertraut scheint. Nur werden die mehrjährigen Haftstrafen in „Politist, adjectiv“ nicht für Abtreibungen, sondern für Drogenbesitz verhängt. Der Zivilpolizist Cristi (Dragos Bucur) observiert Schüler beim Haschischrauchen, will ihnen aber eine Überführung in flagranti ersparen. Mutig argumentiert er gegenüber seinem Vorgesetzten für Liberalität und wirbt dafür, allenfalls den Drogenkurier zu fassen.

Der Chef aber verwickelt ihn rabulistisch in einen Dialog über Bewusstsein, Gewissen, Moral und Polizei, um ihm letztlich nur mit der Entlassung aus dem Staatsdienst zu drohen. Moral der Unmoral: Gesetze sind nicht für die Menschen da, sondern für die Lust der Staatsorgane, Macht auszuüben.

So viel Gegenwartsmisere in Cannes unter schönster Frühlingssonne: Wie wäre es zur Abwechslung mit einem sonnigen Film? Da kommt der Wahl-Amerikaner Ang Lee mit „Taking Woodstock“ gerade richtig. In seinem liebevollen nachgetragenen Beitrag zum Loveand-Peace-Weltereignis von 1969 treten unter anderem auf: Elliott (Demetri Martin), seine hinreißend resolute Mutter (Imelda Staunton), sein hinreißender Pantoffelheld von Vater (Henry Goodman), das heruntergekommene Motel der Familie – und ganz, ganz viele bis ins wallende Schamhaar liebevoll ausstaffierte Statisten-Hippies.

Dem jungen Elliott kommt dabei eine Art pophistorische Schabowski-Rolle zu: Erstmals in seinem Leben bekifft, schwafelt er bei der Woodstock-Pressekonferenz von „totaler Freiheit“, was Hunderttausende von Musikfans als Gratis-Einladung der Konzertveranstalter missverstehen. Folglich bleibt auch Elliott im Totalstau nur die Euphorie an der Peripherie, schwules Coming-out inklusive. So charmant bescheiden Ang Lees fiktive Fußnote formuliert sein mag, sein Film befeuert vor allem einen Wunsch: Michael Wadleighs legendäre „Woodstock“-Doku wieder zu sehen – am liebsten in 3D-live, auf der größten Leinwand der Welt.

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