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Filmfest Toronto: Himmelstürmer, Höllenweiber

Startrampe für die Oscars: Neue Filme von den Coen-Brüdern, Atom Egoyan und mit George Clooney beim Filmfest Toronto

Es ist eines dieser Spielchen, die man auf Festivals so treibt, wenn die Filme täglich quartettweise vorüberziehen – diesmal hat es die Amerikaner erwischt. Frage nach der Vorführung: War das jetzt ein „In-flight movie“? Also wieder so ein rundgeschliffenes Würfelchen Fleißkonfekt für die interkontinentale Bordkinogemeinde? Oder hätte der Film keinerlei Chance, in die Bilderdatenbanken der Fluggesellschaften aufgenommen zu werden – weil er sein Publikum verstört, aufrührt, zu nachhaltig wachhält?

Jason Reitmans „Up in the Air“, für den halb Toronto mit unvergleichlicher Engelsgeduld vor den zu Festivalkinos umfunktionierten Downtown-Megaplexen anstand, könnte der ultimative Bordkinofilm sein – schließlich porträtiert er einen jener Geschäftsleute, die über den Wolken längst viel inniger zu Hause sind als anderswo. Nur tut er das, bei allem Tempo, aller Situationskomik und allem brillanten Dialogwitz, wohl einen Tick zu schmerzhaft und genau, um sich für die Vordersitzlehne zu eignen.

Ryan Bingham ist das Gegenteil eines Headhunters: Er fliegt im Auftrag krisengeschüttelter Unternehmen durch die Staaten, um deren Angestellte zu feuern, freundlich, entschieden, effektiv. Sein Leben hat er auf grundsätzliche Einsamkeit ausgerichtet, One-Night-Stands nicht ausgeschlossen, sein höchstes Ziel ist die bei zehn Millionen Meilen fällige Supersilber-Vielstfliegerkarte. Natürlich verliebt Bingham sich eines Tages doch, natürlich kommen ihm Skrupel. Aber statt die Story im Schongang durchzuspülen, setzt Reitman („Thank You for Smoking“, „Juno“) auf Nüchternheit und ziemlich kühle Kapitalismuskritik. Sein Held bleibt auf eine fade Himmelexistenz angewiesen, weil er auf Erden nichts verloren hat.

Wie aber der Kapitalismus so spielt, wurde „Up in the Air“ in Toronto prompt als heißer Oscar-Kandidat gehandelt: als unterhaltsamer Film zur Krise, mit dem äußerst charmant aufgelegten Superstar George Clooney in der Hauptrolle. Also vielleicht doch ein „In-flight movie“, oder, um den Slogan einer Kinokette zu zitieren, der dieser Tage jede Freifläche in der Subway schmückt: „Had enough reality? Escape with us“?

Immerhin: Mit „Up in the Air“ bekräftigt Toronto sein Image als zuverlässiges Oscar-Vorbeben – letztes Jahr hatte es ein Verleiher-Wettbieten um „The Wrestler“ gegeben, auch „Slumdog Millionaire“, der bald darauf für acht Oscars gut war, hatte hier seinen famosen Start. Für das andere Stadtgespräch in der kanadischen Metropole, die architektonisch monsterhoch und ethnografisch megakulti als Schwesterherz New Yorks gilt, sorgten die Coen-Brüder mit ihrem verblüffend erwachsenen „A Serious Man“. Lehrer Larry Gopnik (Michael Stuhlbarg) ist der Biedermann, dem die Brandstifter aus der eigenen Familie auf der Nase herumtanzen: Die Frau schmeißt ihn raus, der ältere Bruder zockt ihn ab, die pubertierenden Kinder machen sich über ihn lustig – von den Schülern und Kollegen zu schweigen.

Ein genialer, vertrackter, vielschichtiger Film zum Rotz- und Wasserheulen, wenn er nicht zum Totlachen wäre. Ob aber so ein Ding ganz ohne Stars, getragen nur von der selbstironischen Fabulierlust der Coens, die ihrer jüdischen Kindheit in den Sechzigern ein liebevoll verrücktes Denkmal setzen, für die Oscars taugt? Auf jeden Fall passt „A Serious Man“ zum Leitmotiv des Festivals: zum Blues der einsamen Männer.

Auch Jon Amiels „Creation“, mit dem das wichtigste amerikanische Festival seinen 34. Jahrgang eröffnete, mischt darin ein paar Takte mit. Doch das Premierenpublikum, das die edle, 3500 Plätze fassende Roy Thomson Hall mit tonnenweise Popcorn verunzierte, zeigte sich von der Charles-Darwin-Hommage nur mäßig angetan. Paul Bettany spielt den Begründer der Evolutionstheorie als so unsympatisch fanatischen Einsiedlerkrebs, dass daran wohl vor allem die amerikanischen Kreationisten ihre Freude haben dürften.

Ach, die einsamen Männer! Am liebsten wollte man sie still beschmunzeln, wenn ihnen die Drehbücher nicht so pädagogisch mitspielen würden. In „Solitary Man“ muss Michael Douglas, in seiner ersten Hauptrolle seit längerem, als verkrachter Autohändler und alternder Beau kräftig Buße tun, bevor die nachgeborene Sippe ihn wieder aufnimmt. Und in Scott Hicks’ australo-britischem Familienepos „The Boys Are Back“ muss erst die grundgütige Mutter sterben, bevor der Vater zweier Söhne (rührend fehlbesetzt: Clive Owen) reichlich tapsig erste erzieherische Anstrengungen unternimmt. In Sachen Happy End nimmt die Edelschnulze zwar nur den Hinterausgang, aber für ein sedierendes Filmerlebnis über den Wolken reicht es allemal.

Leider setzt auch Atom Egoyan, von „Exotica“ bis „Felicia’s Journey“ ein Star-Autorenfilmer der 90er Jahre, immer mehr aufs Bordkino. „Chloe“, gedreht in Toronto, wurde zwar als Heimspiel des derzeit wohl berühmtesten Sohns der Stadt mit Spannung erwartet, dann aber umso grausamer bespöttelt. Nur gut, dass das Filmfest grundsätzlich auf einen Wettbewerb verzichtet und nur einen Publikumspreis vergibt, den am Sonnabend Lee Daniels’ Sozialdrama „Precious“ ergatterte. Aber immerhin huldigt auch „Chloe“ dem starken Geschlecht des 21. Jahrhunderts: den Frauen. Die sind noch einsamer als die Männer, aber sie machen wenigstens was draus.

Egoyans Remake des eleganten französischen Erotikpsychodramas „Nathalie“ erzählt von einer betrogenen Ehefrau, die ein Callgirl auf ihren Ehemann ansetzt, um seine Leidenschaft zu ergründen und ihre eigene daran neu zu entzünden. Julianne Moore spielt, neben einem blassen Liam Neeson, die so masochistische wie kontrollsüchtige Gattin mit Verve, und mit dem kulleräugigen Shootingstar Amanda Seyfried steht ihr ein eigentlich hochwirksames blondes Gift zur Seite. Nur verlangt das Drehbuch statt des kühl aufzulösenden Experiments eine dampfende lesbische Leidenschaft, die der Regisseur arg hilflos inszeniert, und die Sache mündet auch noch in eine Tragödie von der Stange. Die Moral, dass Geschäftliches bittschön nicht mit Liebe zu mischen sei: Bei Egoyan ist sie wohl endgültig zum Restposten verkommen.

Dann schon lieber ein Frauenpower- Kino, so überzogen, dass es fast selbstironisch daherkommt – und dann auch selbstverständlich von Frauen inszeniert. Ridley Scotts Tochter Jordan verhebt sich zwar total an der altenglischen Internatsgeschichte „Cracks“, aber bei den sexy Machtspielchen unter hübschen Turmspringerinnen, befeuert von Sportlehrerin Eva Green, sind zumindest die Männer vollends überflüssig geworden. Immer noch besser als die Rolle, die Karyn Kusama („Girlfight“) ihnen in „Jennifer’s Body“ übrig lässt: Allmonatlich nährt sich Jennifer vom Jüngelchenblut ihrer Mitschüler, damit ihre vampirische Unwiderstehlichkeit keinen Schaden nimmt.

Das Teenie-Horrorfilmchen ist zwar nicht sonderlich spannend, aber durch den coolen Plaudersound der „Juno“-Autorin Diablo Cody ziemlich unterhaltsam geraten. Ganz abgesehen von der Vorstellung, dass eine ultimative Verführung durch Hauptdarstellerin Megan Fox zu jenen Todesarten gehört, mit denen man, zumindest im Kino, ganz ausgezeichnet leben kann. Ist „Jennifer’s Body“ also ein „In-flight movie“?

Unbedingt. Sofern die Anschnallzeichen nicht erloschen sind.

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