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Bilder, wie aus Licht gemeißelt. Vitalina Varela spielt ihre eigene Geschichte.

© Grandfilm

Filmdrama „Vitalina Varela“: Wir taumeln durch die Finsternis

Trauer als Exorzismus: Pedro Costa folgt in „Vitalina Varela“ einer Witwe durch Lissabon. Die Protagonistin spielt darin ihre eigene Geschichte.

Totale auf einen nächtlichen Flughafen, im Licht der geöffneten Kabinentür steht die Silhouette einer Frau, während die Gangway sich piepend in Position bringt. Gegenschnitt auf eine Gruppe von fünf Menschen, die sich mit Staubsaugern und anderen Putzgeräten beladen nähert.

Großaufnahme auf die Treppe, wo sich nackte braune Füße vorsichtig auf die Stufen setzen. Schnitt. Und der Blick von hinten auf die in eine dunkle Lederjacke gekleidete Frau, die auf die mittlere Person des Reinigungstrupps zutritt und von ihr umarmt wird: „Vitalina, mein Beileid. Du kommst zu spät. Das Begräbnis deines Mannes war vor drei Tagen. Hier in Portugal gibt es nichts für dich. Sein Haus gehört dir nicht. Geh zurück nach Hause.“

Madonnenfigur im Türrahmen

Dies ist der erste mit einem Touch von Hollywood fast surreal inszenierte Auftritt der Titelfigur in Pedro Costas Film „Vitalina Varela“. Sie folgt dem Rat nicht und geht ins Haus ihres Mannes, der in einem Armenviertel von Lissabon gelebt hatte.

Nie zuvor war sie dort, nun sehen wir erstmals ihr Gesicht: Das ungeschminkte kräftige Antlitz einer dunkelhäutigen Frau in mittleren Jahren, das wie eine Vignette in den fast lichtlosen Räumen aufscheint. Später steht sie als Madonnenfigur im Türrahmen und empfängt Beileidsbekundungen einiger Männer, die ihr auch Details aus dem Leben des Verstorbenen erzählen.

Vitalina hört zu. Und sie spricht: monologische Anklagen in die Kamera zu Joaquin, der, so erfahren wir daraus, sie bald nach der Heirat ohne Abschied aus der kapverdischen Heimat nach Portugal verlassen hat. Auf ihre Briefe kam nie eine Antwort.

Erst als er plötzlich erkrankte und im Sterben lag, telefonierten Freunde die ferne Ehefrau herbei. „Ich vertraue dir weder im Leben noch im Tod“, sagt Vitalina jetzt. Sie ist eine stolze stoische Frau, hat sich über vierzig Jahre alleine durchgeschlagen.

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Nun scheint sie wie gelähmt von Trauer. Doch auch die anderen Menschen (fast alles Männer) bewegen sich wie in Trance. Erst nach einer Stunde fällt das erste richtig laute Wort. „Keine Messe heute“, verkündet ein Priester, der mit lila Schärpe und zitternden Händen in seiner kleinen Kirche kauert und den Glauben verloren hat.

Hochgradig suggestiv die Inszenierung einer Architektur, wo im nur punktuell erhellten Dunkel der Außenraum ununterscheidbar ins Innere übergeht und das Licht Figuren und einzelne Gegenstände wie Skulpturen aus dem Schatten meißelt. Raus geht es nur nachts.

Und manchmal blitzt es gleißend durch eine halb geöffnete Tür herein. Ein Jahr haben Costa und sein kleines Team hier mit den nichtprofessionellen Darstellern gedreht, lange an jeder Einstellung getüftelt und ausgiebig geprobt.

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Vitalina Varela heißt wirklich so und verkörpert ihre selbst erlebte Geschichte. Der Dreh war für sie eine fast exorzistische seelische Befreiung, erzählt der portugiesische Regisseur in einem Interview. Doch ihre individuelle Geschichte ist eine, die sie mit vielen anderen teilt.

Die Migrationsbewegungen in die Slums von Lissabon oder Porto und die dazugehörigen Trennungs- und Verlusterfahrungen gehören zum kollektiven Erbgut der kapverdischen Kultur. „Wir hätten in Kapverden bleiben können. Wir hatten wenig, aber es gehörte uns“, klagt Vitalina einmal. „Hier ist nur Bitterkeit, hier sind wir niemand.“ So hausen in den durch Finsternis taumelnden Menschen auch die Geister der kolonialen Vergangenheit.

Der Regisseur arbeitet immer wieder mit demselben Team

Seit vielen Jahren hat sich Pedro Costa mit den düsteren Seiten portugiesischer Geschichte und Gegenwart beschäftigt, zuletzt in seiner nach einem mittlerweile abgerissenen Viertel benannten semidokumentarischen Fontainhas-Serie.

Dabei arbeitet er gerne immer wieder mit der gleichen Truppe zusammen. „Vitalina Varela“ schließt daran thematisch wie personell an. Varela, die zusätzlich als Co-Autorin benannt ist, hatte Costa bei den Dreharbeiten zu seinem letzten Film „Horse Money“ (2014) entdeckt.

Im Unterschied zu dessen verschachtelter Narration kommt der jüngste Film mit einer schlichten fast linearen Erzählung aus. Und dann gibt es – wohl der starken Heldin geschuldet – doch noch richtig Licht, fast sogar etwas wie ein Happy End.

Letztes Jahr in Locarno hat Varela den Preis als beste Darstellerin erhalten, der Film selbst den Goldenen Leoparden. Eine Nachrichtenagentur verpasste ihm damals das Etikett „Nischenthema“. Die aktuellen Debatten zum Kolonialismus beweisen, dass das ein Irrtum war.
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