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Liz (Ella Smith) und Ray (Justin Salinger).

© Bob Baker Ashton

Filmdrama "Ray & Liz": Mama, Papa, Schnaps und Schnecken

Der Fotograf Richard Billingham erinnert sich in seinem Spielfilmdebüt „Ray & Liz“ an seine Jugend in einer britischen Unterschichtsfamilie.

Die Hand zittert ein wenig. Doch Ray (Patrick Romer) verschüttet nichts, als er sein randvolles Glas zum Mund führt und es in einem langen Zug leert. Dann stellt er es mit einer anmutigen Geste ab. Trinken kann der alte Mann. Es ist sein Lebensinhalt geworden. Nur weil sein langhaariger Freund Sid ihm regelmäßig drei große Plastikflaschen mit dem dunkelbraunen Selbstgebrannten bringt, kommt er überhaupt noch aus dem Bett. Er hört Radio oder schaut aus dem Kippfenster seiner Hochhauswohnung am Rande von Birmingham.

In einem solchen Sozialbau hat der 1970 geborene Regisseur Richard Billingham einen Großteil seiner Jugend verbracht. Für sein Spielfilmdebüt „Ray & Liz“ hat er die Wohnung jetzt noch einmal rekonstruiert und lässt sein damaliges Familienleben von einem beeindruckend aufspielenden Ensemble nachstellen. Die Szenen mit dem alten Trinker Ray bilden dabei den Rahmen für zwei lange Rückblenden. In der ersten lebt die Familie noch in einem kleinen Haus und kommt finanziell einigermaßen über die Runden.

Die Eltern liegen im Bett, die Kinder sind sich selbst überlassen

Etwa sechs Jahre später – Richard ist 16, sein Bruder Jason neun Jahre alt – geht es in der mit Nippes vollgestopften Sozialwohnung schon wesentlich ärmlicher zu. Manchmal wird der Strom abgestellt, es gibt schlechtes Essen, Liz (Ella Smith) raucht Kette, der Hund pinkelt auf den Boden. Seit Ray (Justin Salinger) arbeitslos ist, haben sich die Strukturen aufgelöst. Die Eltern liegen auch tagsüber im Bett, die Kinder sind sich selbst überlassen.

Vor allem in diesem langen, besonders berührenden Mittelteil greift Billingham auf Fotografien zurück, die 1996 in seinem Bildband „Ray’s a laugh“ erschienen sind. Eigentlich hatte der junge Kunststudent die Aufnahmen seiner Eltern als Vorstudien für Gemälde angefertigt, doch dann wurde er damit bekannt und ein paar Jahre später sogar für den Turner Prize nominiert. Direkt und indirekt greift Billingham in „Ray & Liz“ Motive der frühen Serie auf. So zitiert er etwa die bekannte Aufnahme seiner stark tätowierten Mutter, die in einem bunt bedruckten Kleid in ein Puzzlespiel vertieft ist. Auch Haustiere, die in dem Fotoband eine wichtige Rolle spielten, sind häufig zu sehen.

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Jason (Joshua Millard-Lloyd) fühlt sich seinen Schnecken und dem Kaninchen näher als den Eltern, die kaum ein Wort mit ihm wechseln. Dass er einmal über Nacht wegbleibt und dabei fast erfriert, bekommen sie gar nicht mit. Doch Richard Billingham klagt die beiden nicht an, er stellt auch ihr Elend nicht aus, sondern versucht, einfach nur möglichst genau zu zeigen, wo er herkommt. Anders als Ken Loach, der in seinen Sozialdramen ebenfalls oft die britische Unterschicht porträtiert hat, fehlt ihm dabei aber jeglicher kämpferische Impetus.

Die Menschen wirken wie eingesperrt

Billinghams Blick ist sachlich und kühl. Nur auf Jason, den heimlichen Helden von „Ray & Liz“, schaut er voller Liebe und Mitgefühl. Als der Junge einmal bei einem Freund übernachtet und begreift, dass er in der Nacht ein richtiges Bett haben wird, umarmt er die Mutter des Freundes mit einer ruckartigen Bewegung. Ein zutiefst anrührender Moment. Jason ist der Einzige, dem in den hundert Filmminuten mitunter Glück und Unbeschwertheit vergönnt sind. Der kleine dickliche Kerl ist zudem erstaunlich zäh und weiß sich zu helfen. Als er an einem grauen Tag allein einen Zoo besucht, benutzt er unterwegs einen Sessellift, wodurch kurz ein Stückchen Himmel zu sehen ist. Sonst spielt der auf 16 Millimeter gedrehte Film überwiegend in Innenräumen, in denen die mittig gesetzten Menschen wie eingesperrt wirken. Dazu trägt auch die sehr ruhige Kameraführung von Daniel Landin bei.

Den reduziertesten Radius hat der alte Ray, der sich nicht mehr aus dem Schlafzimmer bewegt – was wiederum die logische Konsequenz seines von Chancenlosigkeit und Passivität geprägten Lebens ist. Jetzt leisten ihm nur noch Fliegen Gesellschaft und der junge Jason grinst von einem Bild an der Wand.

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