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Kennenlernen. Die vier Schwestern am Strand bei Tokio.

© Pandorafilm

Film von Hirokazu Kore-eda: "Unsere kleine Schwester": Endlich verwandt

Spektakulär unspektakulär: „Unsere kleine Schwester“ - ein zarter Film des Japaners Hirokazu Kore-eda erzählt von plötzlichem Familienzuwachs.

Müssen wir dahin? Die Schwestern sind nicht sicher. Was um Himmels willen geht sie der Tod eines Fremden an? Nun gut, nicht ganz fremd. Er war mal ihr Vater. Aber das ist lange her, fünfzehn vaterlose Jahre. Nur Sachi, die Älteste, hat noch ein paar Erinnerungen an ihn, keine guten, wie sie glaubt. Für Yoshino und Chika, die jüngeren Schwestern, ist er bloß ein Gerücht. Aber sie fahren trotzdem, es ist ihr Tribut an die Biologie.

Als die Schwestern aus dem Zug steigen in dem kleinen Ort, wo der Vater zuletzt wohnte, finden sie allerdings kaum Zeit, sich skeptisch und in vorgefasster Ablehnung umzusehen: Auf dem anderen Bahnsteig steht ein Mädchen, 13 Jahre alt, und fragt, ob sie die Töchter ihres Vaters seien. Da ahnen die drei noch nicht, mit welchen Worten sie wieder fortfahren werden, gesprochen, als sich die Waggontüren schon schließen: Willst du bei uns wohnen?

Hauptheldin: die Zeit

„Unsere kleine Schwester“ basiert auf der erfolgreichen Manga-Serie „Umimachi Diary“ von Akimi Yoshida. Der Regisseur Hirokazu Kore-eda („Like Father, Like Son“) fragte sich beim Lesen, warum die drei Schwestern ihre Stiefschwester nicht tyrannisieren. Denn schon die Stiefverwandtschaft scheint dieses Verhalten nahezulegen. Irgendwann meinte der Filmemacher, den Grund zu kennen. Hauptheldin des Mangas ist nicht die kleine Schwester, auch nicht alle vier Schwestern zusammen. Sondern die Zeit. Der Rhythmus des Lebens in der schönen Hafenstadt am Meer nahe Tokio, ein versöhnender, heilender Rhythmus wie der Wellenschlag am Strand. Die Schwestern gehen oft ans Meer.

Bei genauerem Hinsehen aber ist die Hauptheldin des Films gar nicht die Zeit. Sondern die Mahlzeit. Wann wurde in einem Film zuletzt so viel, so ununterbrochen gegessen wie hier? Dabei gibt es kaum adipöse Japaner, und auch die jungen Frauen kommen – von Meeresfrüchtecurry zu Meeresfrüchtecurry – immer mehr in Form. Die Frage „Was kochen wir jetzt?“ macht zuallererst sanft. So hat etwa das Meeresfrüchtecurry, noch vor allerlei anderen Currys, einer vertrockneten Makrele sowie dem selbst gemachten Pflaumenwein, eine Schlüsselstellung inne. Es sei das einzige Gericht, das sie von ihrer Mutter gelernt habe, erfährt die 13-jährige Suzu von der ältesten Schwester Sachi. Denn sie habe nicht gern gekocht, und dieses Curry gelang immerhin schnell. Und schon der Tonfall verrät, dass Sachi ihre Mutter nicht minder verachtet als den Vater.

Die Eltern: lauter Versager

Überhaupt, die Elterngeneration: lauter Versager. Wie nebenbei erzählt der Film von der traditionellen japanischen Familienmoral. Auch die Mutter hat die Familie verlassen, als der Vater ging, bloß aus anderen Gründen. Weil sie mit der Schande, eine verlassene Frau zu sein, nicht am selben Ort bleiben konnte. Also ließ sie ihre Töchter zurück in dem schönen alten Holzhaus, in dem diese noch immer leben. Auch Suzu, die Neue, lernt diese Frau kennen, der sie wie das Mal ihres verfehlten Lebens scheinen muss. Es braucht einen einzigen Satz, um die Fallhöhen zu kennen, einen Satz, der niedergeht wie ein Samuraischwert: Eine Frau trage immer die Mitschuld, wenn der Mann sie verlässt.

Nicht zuletzt solche Schwert-Sätze und alle Stiefverwandtschaftslogiken sind es, die dieser zarte, so spektakulär unspektakuläre Film entmächtigt. In großen, einfachen Bildern stellt er ihnen seine Milde entgegen, seine schöne Moral zwanglos gelebter Verantwortung füreinander. Haruka Ayase als Sachi, Suzu Hirose als Suzu, außerdem Masami Nagasawa und Kaho geben den vier Schwestern ihre Gesichter – und dazu Lebensmut und Anmut einer neuen japanischen Frauengeneration.

Filmkunst 66, Kant und Passage; OmU im fsk am Oranienplatz und im Kino Hackesche Höfe

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