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Das Programm „Klassiker sehen – Filme verstehen“ wurde ab 2012 von der Filmakademie und der Bundeszentrale für politische Bildung gemeinsam mit dem Erziehungswissenschaftler und Filmvermittler Martin Ganguly (hier im Bild) konzipiert und kuratiert.

© Deutsche Filmakademie/ Florian Liedel

Film in der Schule: Wie Kinder in die Welt des Kinos eingeführt werden

Filmbildung taucht im Unterricht nur am Rande auf. Dabei gibt es für Schulen eine Reihe verschiedener Programme – und viel zu lernen. Am Ende macht es klick.

Warum heißt der Hund Sputnik? Wieso gab’s in der DDR keine Bananen? Was war euer Ziel bei dem Film? Die Kinder im Kino International stehen Schlange an den Mikros. Ihre Fragen kommen Schlag auf Schlag, eine schlauer als die andere.

Eröffnung der Berliner Schulkinowochen: Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls wird der Animationsfilm „Fritzi – Eine Wendewundergeschichte“ gezeigt, für Schülerinnen und Schüler ab der vierten Klasse.

Fritzi aus Leipzig hütet in den Sommerferien den Hund ihrer Freundin Sophie, die mit der Mutter nach Ungarn fährt und nicht mehr zurückkehrt. Es ist die Zeit, als die Montagsdemonstrationen in der Stadt der Friedlichen Revolution immer mehr Zulauf finden.

Nach der Vorführung stehen Regisseur Matthias Bruhn und Drehbuchautorin Beate Völcker Rede und Antwort. Ist die Geschichte in echt passiert? Wie haben Sie 700 Mitarbeiter zusammengebracht? Warum wurde an der Grenze geschossen, die DDR verliert doch ihre eigenen Leute? Verblüffend, wie die Neunjährigen die Widersprüche des Arbeiter- und Bauernstaats und das Wesen des Kinos in Ein-Satz-Fragen erfassen.

In der Schule taucht Filmbildung nur am Rande auf

Wer zur Schule geht, lernt Kulturgut kennen. Goethe, Kleist und Salinger stehen genauso auf dem Lehrplan wie Bach und Schönberg, Kandinsky und Rembrandt, dazu gibt es Poetry-Slams und Theater-AGs. Filmbildung taucht nur am Rande im Curriculum auf – als stünde der Film immer noch in der Schmuddelecke der Künste.

Dabei sind die mit Smartphones aufwachsenden Kinder von heute mit der Allgegenwart der Bilder konfrontiert wie keine Generation zuvor. Immerhin taucht das Bewegtbild seit 2016 im Berliner Rahmenlehrplan auf, Film kann als Wahlpflichtfach gewählt werden.

Meist wird Medienbildung jedoch im Rahmen anderer Fächer empfohlen, vom Deutschunterricht über Kunst, Musik und die Gesellschaftswissenschaften bis zur Mathematik. Auch Bremen, Niedersachsen und Baden-Württemberg haben den Film im Lehrplan verankert.

Ohne Zusatzangebote wie die Schulkinowochen alljährlich im Frühjahr und im Spätherbst, ohne Initiativen wie das Spatzenkino für Kitas, das Kinderkinobüro des Jugend-Kultur-Service, das KuKi-Festival mit Kurzfilmen für Kids oder das Schulprogramm bei der Generation- Reihe der Berlinale sähe es um die Filmbildung in Deutschland noch schlechter aus.

Ohne filmbegeisterte Lehrkräfte ginge nichts

Vor allem ginge nichts ohne filmbegeisterte Lehrkräfte, die sich weiterbilden, Kinobesuche in den eng getakteten Stundenplan einbauen und sich durch Unterrichtsmaterialien ackern.

Bereitgestellt werden sie von Vision Kino, einem unter anderem vom Bund finanzierten Netzwerk für Film- und Medienkompetenz, das seit 2006 die bundesweiten Schulkinowochen veranstaltet. Knapp eine Million Kinder besuchten 2018/19 insgesamt 11 000 Vorführungen, in 850 Kinos. „Wir bohren dicke Bretter“, sagt Projektleiter Michael Jahn.

„Film- und Medienbildung wird schon in der Lehrerausbildung nicht gerade großgeschrieben, und die Kinder sehen bei uns Filme, die für sie vielleicht erst mal ungewohnt sind.“ In der Tat ist Film als Bestandteil der Didaktik-Ausbildung bis heute die Sache einzelner engagierter Dozenten.

Vision Kino organisiert Fortbildungen und Kongresse, stellt Filmhefte zum Download bereit. Aktuell etwa zur Verfilmung des Kinderbuchklassikers „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, die schon vor dem Kinostart an Weihnachten von Schülern besucht werden kann.

Klassiker für Jugendliche

Apropos Klassiker. Auch die Deutsche Filmakademie hat ein Schulprojekt aufgelegt, für Jugendliche ab 14 Jahren, ebenfalls mit Workshops für Lehrer flankiert. „Klassiker sehen – Filme verstehen“ richtet den Fokus aufs Filmerbe, mit vier Unterrichtsblöcken samt Kinotagen im Lauf von zwei Jahren. Sechs Themen stehen zur Wahl, etwa Vampirfilm, Western oder „Jugend in den 50er Jahren“. Filmvermittlerinnen begleiten die Programme.

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In der Klasse 9 E des Friedenauer Rheingau-Gymnasiums steht gerade „Filmtrick & Trickfilm“ auf dem Stundenplan. Gemeinsam mit Klassen aus zwei anderen Schulen sitzen die Rheingauer an diesem Morgen im Bundesplatz-Kino. Es ist unruhig im Saal, besonders hinten bei der Mädchenclique. Ein Handy wurde versehentlich geschrottet, es gibt Tränen, Trost, Getuschel. Das Interesse an Scherenschnitten von Lotte Reininger hält sich eher in Grenzen.

Reiningers Stummfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ von 1926, der älteste abendfüllende Animationsfilm, ist ein Meisterwerk der Silhouettentechnik, aber eben ein altes. Die Kids stöhnen auf, wenn die Zwischentitel den nächsten Akt annoncieren. „Langweilig“, so das ehrliche Fazit.

„Er möchte sie heiraten, aber sie wird geklaut“, fasst ein Mädchen den sexistischen Plot des zauberhaften Werks zusammen. Auch die ungelenken Spezialeffekte des Abenteuerfilms „Der Dieb von Bagdad“ von 1940 sorgen für Lacher.

Langsames Erzählen sei wie Kaugummi

Ähnliches erlebt man als Zaungast im Zeughauskino, bei der Vorführung des Defa-Films „Das Mädchen aus dem Fahrstuhl“ bei den Schulkinowochen. „Kaugummi“, so ein Neuntklässler zum Erzähltempo.

Dabei erzählt Herrmann Zschoches Film vom Schulalltag in Berlin und von der ersten Liebe. Lauter hautnahe Sujets, nur eben unter den Bedingungen des sozialrealistischen Regimes – und mit einer etwas langsameren Bildsprache.

Oh je, seufzt man insgeheim, Neunjährige und Neuntklässler, dazwischen liegen Welten. Ist es eine gute Idee, pubertierenden Jugendlichen Stummfilmklassiker oder Defa-Historie als Alternative zu „Avengers: Endgame“ und Teenie-Serien schmackhaft zu machen? Andererseits: Ist „Effi Briest“ im Deutschunterricht lebensnäher? Und sind die Frauen da nicht auch das schwache Geschlecht?

Lieblingsfilm bei den Mädchen ist oft „Titanic“, bei den Jungs „Star Wars“

Das Mikro hallt im Bundesplatz-Kino, Filmvermittlerin Kirsten Taylor hat es nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen. „Was ist ein Klassiker?“ Schweigen, erste Antwortversuche. „Star Wars?“ „Biene Maja?“ „Harry Potter?“

Bei der Nachbereitung ein paar Tage später funktioniert die Technik im Klassenzimmer nicht; selbst der Computercrack der 9 E kann Taylors Laptop mit den vorhandenen Kabeln nicht an den Beamer anschließen. Aber es macht nichts. Das Gespräch über Stop- Motion-Verfahren, Greenscreens und Tricktechniken wie Überblendungen oder spezielle Kameraperspektiven verläuft weit lebhafter als im Kino.

Als Lieblingsfilm geben die Mädchen gern „Titanic“ und die Jungs „Star Wars“ an, wie ihre filmaffine, engagierte Lehrerin Bärbel Schoolmann in der Pause verrät. Bereitwillig basteln die 14-Jährigen ein Daumenkino, um die Einzelbildschaltung bei der Animation nachzuvollziehen. Auch ihr Problem mit Reininger erläutern sie genauer.

Wir sind es gewohnt, dass auf der Leinwand geredet wird, sagt ein Mädchen. Bei „Prinz Achmed“ muss ich mir den ganzen Film über selber denken, was die sagen, das ist anstrengend. Stummfilm, ein unbekanntes Terrain.

Am Ende macht es klick

Nicht immer überträgt sich Kirsten Taylors Leidenschaft fürs Filmerbe auch auf die Klasse. Als sie einen Scherenschnitt des Prinzen mit feinen Scharnieren an den Gelenken von Pferd und Reiter zeigt und begeistert „Das ist der Original-Ahmed“ ruft, heißt es retour: „Original-Ahmed? Da kenn ich auch einen!“

An den Berliner Schulkinowochen im November nahmen 20.000 Schüler*innen teil. Seit 2006 wurden im gesamten Bundesgebiet über neun Millionen Kinder erreicht.
An den Berliner Schulkinowochen im November nahmen 20.000 Schüler*innen teil. Seit 2006 wurden im gesamten Bundesgebiet über neun Millionen Kinder erreicht.

© Schulkinowochen/Jana Mila Lippitz

Funktioniert so Sensibilisierung? „Am Ende macht es klick“, versichert Kirsten Taylor. „Nach zwei Jahren gucken die Jugendlichen anders, achten auch auf den Soundtrack oder die Farbästhetik.“ Seit 2014 tourt die Publizistin als Vermittlerin durch die Republik, besuchte Schulen in Wismar und Witzenhausen, Hamburg und Hoyerswerda. Seit April sind die Berliner Bezirke dran, bis zum Frühjahr 2021.

Die Hürden sind hoch: Wer nicht mehr mit „Bonanza“ aufgewachsen ist, weiß wenig über Western. „Nosferatu“ bleibt vielen zunächst fremd, bei „Blade Runner“ kritisierte ein Mädchen das „Vergewaltiger“-Benehmen des Titelhelden Rick Deckard.

Gut so, meint Taylor. Und dass James Dean bei den Jugendlichen immer noch ankommt. Viele gucken nach „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ von sich aus weitere Filme mit dem Kultstar der Fifties.

Vorwürfe gegen Vision Kino

„Film ist eine schöne Gelegenheit, über sich selbst zu sprechen, ohne sich beim Namen zu nennen“, sagt Taylor, die seit 2009 auch bei den Schulkinowochen tätig ist. Als sie in einer Bremer Klasse mit mehrheitlich türkisch- und arabischstämmigen Kindern „Das schweigende Klassenzimmer“ diskutierte, taten sich Parallelen zum eigenen Schulalltag auf: Stichwort Zivilcourage.

Als sie gemeinsam mit der NGO Terre des Femmes das türkische Schwesterndrama „Mustang“ zeigte, fragte ein Schüler: „Werden auch Jungen entjungfert?“

Kürzlich wurden Vorwürfe gegen Vision Kino laut. Es gelte, die „bisher dürftige Wirkung der Filmbildung in Deutschland signifikant zu verbessern“, appellieren der Produzentenverband, der Verband der Deutschen Filmkritik und andere an den Schirmherrn des Netzwerks, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Moniert wird, dass die Programme zu viel „vermeintlich ,jugendaffinen‘ Mainstream“ enthalten und zu viel Deutsches. Die Bildsprache komme zu kurz, das Kino als Ort werde zu wenig promoviert, und es mangele an Kontinuität.

Die Kritik ist falsch adressiert

Kritik, die nicht ganz falsch ist, aber falsch adressiert. Deutsche Produktionen finden sich schon deshalb so zahlreich bei den Schulkinowochen, weil Gespräche mit den Filmschaffenden dann ohne Sprachbarrieren möglich sind. Internationale Arthouse-Filme wie „Supa Modo“ aus Kenia, „Yuli“ aus Kuba oder die schwedische Klimawandel-Doku „Bikes vs Cars“ sind ebenso dabei wie das Kino als Vorführort selbstverständlich.

Die Kritik zielt eher auf die grundlegendere Finanz- und Curriculum-Frage. Schulkino kann nur dann übers ganze Jahr stattfinden, wenn das Geld und die Zeit dafür da sind. Gerne würde Vision Kino für den Unterricht auch die Filmschaffenden selbst mehr in eigens produzierten Einführungen und Videostatements zu Wort kommen lassen, sagt Michael Jahn.

Aber auch das kostet. Wer Scherenschnitt-gelangweilte Kids im Kino erlebt, denkt sogar umgekehrt, ob ästhetische Fragen nicht besser anhand von Marvel-Filmen oder episches Erzählen in aktuellen Serien verhandelt werden sollte. Damit die Jugendlichen mehr Aha-Effekte erleben.

Im Rahmen der Schulkinowochen lernen die Kinder auch die Arbeit des Filmvorführers kennen.
Im Rahmen der Schulkinowochen lernen die Kinder auch die Arbeit des Filmvorführers kennen.

© Lisa Haußmann/Schulkinowochen

Und alle Initiativen bemühen sich durchaus um Kontinuität. „Klassiker verstehen“ (finanziert unter anderem von der Lotto-Stiftung) setzt Impulse von außen, stellt aber Lehrkräften DVD-Boxen zur Verfügung, für noch mehr Film im Unterricht.

Und Vision Kino versteht sich als „forderndes“ Programm. „Wir wollen die Lehrkräfte aktivieren und ihnen ermöglichen, die Filmbildung eigenständig in die Hand zu nehmen“, sagt Jahn.

Hilfe zur Selbsthilfe: Jährlich werden immerhin 30 000 Downloads von Materialien verzeichnet, bundesweit nehmen pro Jahr tausend Lehrkräfte an Fortbildungen teil, die von drei Stunden bis zu eineinhalb Tagen dauern. Dass das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, wissen auch die Netzwerker von Vision Kino.

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