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Weit auseinander. Maria (Birgit Minichmayr) und Niels (Jürgen Vogel) in ihrem Holzhaus am Polarkreis.

© alamodefilm

Film der Woche: "Gnade" am Rand der Welt

Filme, die auf Nummer Sicher gehen, gibt es genug. Matthias Glasner erforscht in seinen Psycho-Dramen lieber extreme moralische Grenzsiztuationen - mit aufregend ungewissem Ausgang. Neuestes Beispiel: "Gnade".

Und wenn das jetzt ein Film von Lars von Trier wäre oder von, sagen wir, Michael Haneke? Mit den metaphysischen Landschaften und dem so zerquälten wie großartig quälenden Erlösungssehnen des einen und den kühl inszenierten zwischenmenschlichen Grenzüberschreitungen des anderen? Ja, und mit jenem Pathos, das all denen innewohnen muss, die ihre Filme zum Beispiel „Melancholia“ oder „Liebe“ nennen? Dann würde wohl jeder, der hierzulande noch das ein bisschen besondere Kino liebt, vor „Gnade“ auf den Knien liegen.

Nun mag Matthias Glasner, der mit „Gnade“ seinen sechsten Kinospielfilm vorlegt, weder der große Däne noch der große Austrofranzose sein – aber die deutschen Kollegen seiner Generation überragt der Mittvierziger allemal. Anders als etwa „Barbara“-Regisseur Christian Petzold und Hans Christian Schmid („Was bleibt“), mit denen er sich dieses Jahr den prominenten deutschen Auftritt im Berlinale-Wettbewerb teilte, will Glasner weder durch noble Themen noch durch stilistische Kunstfertigkeit glänzen. Sondern geht mit seinen thematisch wuchtigen und ästhetisch genau gearbeiteten Filmen stets voll ins Wagnis. Jenes Wagnis des Nichtgefallens, mit dem das Außergewöhnliche beginnt.

Das mag mal schiefgehen, wie zuletzt in dem knapp dreistündigen Leidensepos „Der freie Wille“ (2006): Damals machte Glasner seinen Lieblingssschauspieler Jürgen Vogel in der Rolle eines rückfälligen Triebtäters zum geradezu jesusähnlichen Schmerzensmann, dem am Ende nur das tränentriefende Mitleid einer todunglücklichen Geliebten blieb. Andererseits kann sich eben dieser Sinn fürs psychologisch-thematische Risiko in grandiose Höhen hinaufschrauben wie nun in „Gnade“ – vielleicht gerade weil das ungeheure Drama der Geschichte hier nicht breit ausgespielt wird, sondern gewissermaßen in den Figuren implodiert.

Mit einem Drehbuch des Dänen Kim Fupz Aakeson, der bisher etwa Pernille Fischer Christensen oder Annette K. Olesen das Material für ihre sensiblen PostDogma-Alltagsgeschichten lieferte, hat Glasner erstmals einen fremden Stoff verfilmt und ihn aus Kopenhagen nach Hammerfest im äußersten Norden Norwegens verlegt. Eine kluge Entscheidung: Was hier passiert, passiert – zudem in der Polarnacht, wenn wochenlang die Sonne nicht über den Horizont steigt – an einem Rand der Welt, wo die Menschen sehr aufeinander angewiesen sind. Zweitens hat Glasner den Schluss Aakesons, der dann doch die Rückversicherung im Kleinfritzchenrealismus der Edel-Soap suchte, in einem signifikanten Detail verändert.

Jürgen Vogel spielt, zurückhaltend und mit durchdringender Präsenz, den deutschen Ingenieur Niels, der in der Gasverflüssigungsanlage von Hammerfest einen Job annimmt. Anders als sonst nimmt der dienstlich Weltreisende diesmal die Familie mit: Seine Frau, die Krankenschwester Maria (Birgit Minichmayr), findet Arbeit im Sterbehospiz des örtlichen Krankenhauses, und der zwölfjährige Sohn Markus (Henry Stange) muss, nach einem Norwegisch-Crashkurs, als Außenseiter in der neuen Schule zurechtkommen. Eine Auswandererfamilie mit allerhand Kommunikationsproblemen: Niels ist ein notorischer Fremdgänger, und Markus steht mit seinen Eltern nur insofern in Kontakt, als er ihr seelisches Aneinandervorbei immer wieder heimlich mit dem iPhone filmt.

Eines Nachts, nach einer Doppelschicht in der Klinik, schaut die durch die grandiose Schnee-, Hügel- und Küstenlandschaft (Kamera: Jakub Bejnarowicz) heimfahrende Maria eine Sekunde zu lange in den grün schimmernden Himmelsvorhang des Polarlichts. Das Auto stößt mit irgendetwas zusammen; Maria fährt – im Rückspiegel ist nichts zu sehen – weiter, und auch Niels, der nach ihrer Schilderung die Strecke sofort mit der Taschenlampe absucht, kann nichts Auffälliges entdecken. Anderntags stellt sich heraus: Maria hat ein 16-jähriges Mädchen getötet, das auf dem Rückweg von einer Party war. Und sie schwört – „Ich bin nicht dieser Mensch, der andere tötet!“ – ihren Mann darauf ein, ihre Schuld fortan vor der Welt geheimzuhalten.

Wie diese Schuld fermentiert in den Figuren, wie sich anderweitige Einzelschuld in ihr spiegelt und von ihr abhebt und wie sie sich auf ungewöhnlichen Wegen sühnen lässt oder auch nicht: Das ist das große, überaus spannende Abenteuer dieses Films. Es kulminiert in einer atemberaubenden – und von allen Beteiligten fantastisch gespielten – Szene in einem Dutzendwohnzimmer mit angrenzender Dutzendküche, in der vier Menschen erstmals ein schreckliches Wissen teilen und seine Folgen zu erfassen suchen. Vor allem Birgit Minichmayr als Maria gibt darin ein Äußerstes an Schuldeingeständnis, zitternder Angst und Selbstbeherrschung. Im deutschen Kino dieses Jahres findet sich nichts, was sich annähernd mit der stillen Wucht dieser Szene vergleichen ließe.

„Unrealistisch“, so murmelte nach der Premiere am Montag im Berliner International eine Zuschauerin zu ihrer Nachbarin. Tatsächlich reizt „Gnade“ eine fundamentale moralische Frage extrem aus, und nur wer in Sachen Gnade grundsätzlich allein Gott oder die weltliche Justiz für zuständig hält, dürfte angesichts der seelischen Summe dieses Films erschütternd unerschüttert nach Hause gehen. Filme öffnen Welten, und sie tun es viel zu selten. Hier aber sehr.

Ab Donnerstag im Cinemaxx, Filmtheater am Friedrichshain, fsk, Hackesche Höfe, Kant, Kulturbrauerei und Passage

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