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She She Pop spüren in der Produktion „Kanon“ ihren ganz subjektiven Theatermomenten nach.

© Dorothea Tuch

Festival Postdramatisches Theater: She She Pop sampeln denkwürdige Bühnenmomente

Vor 20 Jahren schrieb Hans-Thies Lehmann das Standardwerk „Postdramatisches Theater". Nun gibt es im HAU das Festival zum Buch.

Kinder, wie die Zeit vergeht! Jetzt wird das postdramatische Theater auch schon 20. Genauer: Das Buch, das der Wissenschaftler Hans-Thies Lehmann über diese Kunstpraxis geschrieben hat, feiert 20-jähriges Erscheinen. Sein „Postdramatisches Theater“ ist heute ein Standardwerk, es nimmt eine ungebrochen gültige Beschreibung all der schillernden Bühnenunternehmungen vor, die die Heiligtümer des Repräsentationstheaters von der Rampe entsorgen. Namentlich „Nachahmung“ und „Handlung“.

Aus dem Studiengang für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, den Lehmann mit Andrej Wirth aufgebaut hat, sind die Größen der Berliner Postdramatik hervorgegangen: Gruppen wie She She Pop, Gob Squad oder Rimini Protokoll, die heute in der freien Szene jenen Veteranenstatuts innehaben, den man sonst nur von Stadt- und Staatstheaterfürsten kannte. Und wie jene müssen sie aufpassen, nicht in den Verwaltungsmodus des eigenen Labels zu schalten.

Aenne Quiñones, stellvertretende künstlerische Leiterin des HAU, hatte als Mitgründerin von Reihen wie „Reich und berühmt“ entscheidenden Anteil daran, dass sich die munteren Performance-Kollektive als Gegenkultur zum Theater der vierten Wand mit seinen Schauspielvirtuosen etablieren konnten.

Ohne Kanon hilft nur radikale Subjektivität

Das Plakat zum Festival „Live Art - New Theatre for the 90s“ von 1997 hat heute Hitlisten-Format: Forced Entertainment zeigten „Speak Bitternis“, Gob Squad waren mit „Close Enough to Kiss" vertreten, Desperate Optimists performten „Stalking Realness“. Erinnert sich noch jemand an diese Shows? Was bleibt überhaupt im Gedächtnis von Abenden, deren Wesen die Flüchtigkeit ist, der nie zu wiederholende Gemeinschaftsmoment mit dem Publikum? Dem spüren She She Pop in ihrer jüngsten Arbeit „Kanon“ im Rahmen des Festivals „Alles ist Material – 20 Jahre postdramatisches Theater“ im HAU nach.

Die Performerinnen Johanna Freiburg, Sebastian Bark und Ilia Papatheodorou gehen zusammen mit Gästen (am Premierenabend Volksbühnen-Furie Brigitte Cuvalier, Gob-Squad-Mitglied Sean Patten, P14-Regisseurin Zelal Yesilyurt und die chilenische Theatermacherin Leicy Valenzuela) auf Kopfkinobesuch. In Kostümen (Lea Søvsø), die Ikonen der Aktionskunst wie Valie Export oder Yves Klein zitieren, reenacten sie Szenen, die sich ihnen eingebrannt haben. Querbeet durch die Jahrzehnte und Fragmente. Wo der Kanon eines gut gefüllten Klassiker-Regals fehlt, muss die radikale Subjektivität helfend einspringen.

Multiple Gegenwart des postdramatischen Theaters

Ein Polizistenpaar wälzt sich wild küssend auf einer Wiese (The Natural Theatre Company, Bath 1986). Ein Achim plant, sich als lebende Kanonenkugel verschießen zu lassen, vermutlich irgendwas von Schlingensief. Ein Stier mit blutiger Zunge kriecht aus dem Kühlschrank und einem Hauptmann wird der nackte Hintern rasiert („Woyzeck“ von Johann Kresnick, Heidelberg 1988). Aus diesen Szenen setzt sich der „Kanon“ zusammen. Dazu gibt's, wegen des Urheberrechts als Parodien deklariert, Choreografien nach Constanza Macras, William Forsythe und Pina Bausch.

Unbestritten besitzt diese Revue der individuellen Erfahrungen Unterhaltungswert. Der Abend ist – um eine Vokabel zu leihen, mit der Lehmann die multiple Gegenwart des postdramatischen Theaters beschrieb – „buntscheckig“. Die Beliebigkeit ist Programm, sie macht den Abend andockfähig. Schließlich dürfen, gutes altes Mitmachtheater, zwei Zuschauerinnen von einem verregneten „Prinz von Homburg“ in Avignon und einem „Oha“-Moment in Milo Raus „Die Wiederholung“ erzählen. Aber man hätte sich doch gewünscht, dass aus dem kollektiven Erinnern des Persönlichen etwas Sinnstiftenderes entsteht, nicht bloß eine Aneinanderreihung von Momenten.

Auf der Bühne geht es nicht um Macht

Das gelingt Ilia Papatheodorou. Sie erzählt von „Cinderella“ im HAU, einer Performance von Ann Liv Young, die als Disney-Prinzessin erst auf den Boden kackte und dann dem Publikum ihre abgepackte Scheiße verkaufen wollte. Auf recht aggressive Weise. Young könne sich in ihrer Rolle alles erlauben, weil sie „die Oberhand“ habe, so Papatheodorou. Woraufhin Young sinngemäß entgegnete: Du glaubst, hier geht es um Macht? Nein, das ist, was du daraus konstruierst. Auch als Zuschauer hat man eine Verantwortung.

Das Festival „Alles ist Material“ hält zur weiteren Reflexion noch einen Vortrag des „Forced Entertainment“-Gründers Tim Etchells parat („The continuous activity of living people“) und eine Aufführung der schönen Gob-Squad-Produktion „Dancing About“. Mal sehen, wie viele Momente dabei entstehen, an die man sich noch in vielen Jahren erinnern möchte.
Das Festival "Alles ist Material – 20 Jahre postdramatisches Theater“ läuft bis zum 29. November im HAU.

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