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Starke Tiefen, starke Höhen. Claude Tchamitchian und Naissam Jalal im Maschinenhaus.

© Patrick Lambin

Festival Jazzdor: Gesänge in Gottes Ohr

Unsichtbares hörbar machen: Das Jazzdor-Festival in der Berliner Kulturbrauerei beginnt mit fragilen Tönen aus Frankreich.

Von Gregor Dotzauer

Nirgends im alten Europa liegt der Orient näher als in Frankreich. Man muss nicht Mathias Énards Roman „Kompass“ gelesen haben, um den sinnfälligsten Beweis dafür in der Musik zu finden. So, wie erst die koloniale Expansion in Richtung Maghreb die Durchdringung der eigenen Kultur beförderte, waren es später die Flucht- und Migrationsbewegungen aus dem bürgerkriegszerrissenen Libanon oder einem von der Islamischen Heilsfront terrorisierten Algerien: Der Raï, die im Westen des Landes entstandene Populärmusik, überlebte in Frankreich.

Ähnliches lässt sich auch für den Jazz behaupten. Mit Dhafer Youssef, dem tunesischstämmigen Oud-Spieler, oder Ibrahim Maalouf, dem libanesischstämmigen Trompeter, hat er inzwischen Musiker hervorgebracht, die zu den unangefochtenen nationalen Größen gehören. Und ständig wachsen Talente nach, etwa die 1984 als Tochter syrischer Einwanderer in Paris geborene Flötistin und Sängerin Naïssam Jalal. Vor drei Jahren war sie mit ihrer Band „Rhythms of Resistance“ beim deutsch-französischen Jazzdor-Festival Strasbourg-Berlin schon einmal in der Kulturbrauerei zu Gast. Philippe Ochem, der künstlerische Leiter, hat seit nunmehr 13 Jahren ein Händchen, neben charismatischen Altgewächsen auch aufstrebende Musiker einzuladen – und beide im Idealfall in einen länderübergreifenden Dialog zu bringen. Nun bestritt Naïssam Jalal mit ihrem Trio das Auftaktkonzert des viertägigen Festivals.

Selbstversunkene Konzentration

„Quest of the Invisible“ (L’ Autre Distribution) heißt das Album, aus dem die Kompositionen stammen, die sie mit dem armenischstämmigen Kontrabassisten Claude Tchamitchian und dem brasilianischen Pianisten Leonardo Montana aufgenommen hat. Es ist eine introvertierte, ganz auf Klangschönheit ausgerichtete Musik, die an einem heißen Frühsommerabend, wenn die Klimaanlage im Maschinenhaus mitsummt, erst einmal allzu fragil klingt. Doch so, wie sie in ihrer selbstversunkenen Konzentriertheit die Flügel aufspannt und in den wenigen exaltierteren Momenten ihre ostinaten Sehnen und Muskeln spielen lässt, nimmt sie das Publikum von Anfang an mit.

Auf ihrer Querflöte schwebt Jalal durch arabische Skalen, bevor sie sich in gesangsverzerrte Tonkaskaden stürzt, die von rein vokalen Juchzern unterbrochen werden. Und auf der Nay, der mundstücklosen Flöte, die sie in Damaskus studiert hat, sucht sie nach jener spirituellen Trunkenheit, die schon die Stücktitel andeuten: die buchstäblichen „Ivresse“, die „Prière“, ein Gebet zu Allah, oder das versonnenen „Songe“. Wenn dies auch eine Art Weltmusik ist, so hat sie doch alles Exotisierende hinter sich gelassen. Und insofern es in seinem improvisatorischen Zugriff als Jazz durchgehen kann, bewegt es sich doch jenseits des vertrauten Vokabulars. Dafür steht in seiner eigenen, hierzulande noch fast unbekannten Kammermusik, auch Claude Tchamitchian. Er ist das subtile Kraftzentrum dieses Trios: ein virtuoser Erbe Henri Texiers und des verstorbenen Jean-François Jenny-Clark.

Abseits der Gattungen

Jenseits des Jazz auch die Deutschlandpremiere des Projekts „Unbroken“: die Kombination eines Streichertrios, bestehend aus Régis Huby (Geige), Guillaume Roy (Bratsche) und Vincent Courtois (Cello), mit einem elektronisch dominierten Trio. Die Norweger Jan Bang, der sich als virtuoser Live-Remixer einen Namen gemacht hat, und der Gitarrist Eivind Aarset, der kaum einen Ton ungeschoren durch seinen Effektgerätepark kommen lässt, haben sich hier mit dem italienischen Perkussionisten Michele Rabbia verbündet. Auch bei ihm schwirrt jeder zweite Schlag computerverfremdet nach. „Unbroken“ träumt einmal mehr von einer neuen Gemeinschaft von Mensch und Maschine. Erst füttern die Streicher ihre klassisch-konsonanten Texturen in den Sampler, bevor dieser sie im geräuschhaften, mitunter von knalligen Beats durchwirkten Miteinander von Gitarre und Schlagzeug zerstückelt und verformt wieder ausspuckt. Ein Hexenkessel, in dem sich die Streicher, mit ihrem eigenen Spiel konfrontiert, von Neuem behaupten müssen.

Post-Ambient nennt man diese Musik aus dem Umkreis des Punkt-Festivals im südnorwegischen Kristiansand, weil für die pure Gehörgangsmassage der Ambient Music viel zu viel passiert. Selbst in den anheimelnd ruhigen Momenten dieser aus zahllosen Schichten aufgetürmten Soundscapes grollt und knistert es unaufhörlich: ein Wetterleuchten, von dem sich nicht sagen lässt, ob das große Gewitter schon abgeklungen ist oder es erst noch heraufzieht.

Maschinenhaus, bis 7. Juni, jeweils 20 Uhr. Infos: www.jazzdor-strassburg-berlin.eu, Mitschnitte auf Deutschlandfunk Kultur 24.6. und 8./22.7., jeweils 20 Uhr

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