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Der Serienmörder Fritz Haarmann. Er hat in den 20er Jahren in Hannover mindestens 24 Menschen getötet (undatiertes Archivfoto).

© Polizeigeschichtliche Sammlung Niedersachsen/picture alliance / dpa

Faszinosum Fritz Haarmann: Dirk Kurbjuweits Roman über den Serienmörder von Hannover

Der Werwolf von Hannover? Oder gar der Retter der Republik? Dirk Kurbjuweits Kriminalroman über den Zwanziger-Jahre-Serienmörder Fritz Haarmann.

Wenn es so etwas wie einen deutschen Jack the Ripper gibt, dann ist es Fritz Haarmann. Auch der Schlächter von Hannover avancierte zur Volksfigur, seine künstlerische Rezeption ist kaum zu überblicken: vom Volkslied „Warte, warte nur ein Weilchen“ bis zu Fritz Langs Stummfilmklassiker „M - eine Stadt sucht einen Mörder“, von Alfred Hrdlickas „Haarmann-Fries“ in Bronze bis über die Fassbinder-Produktion „Die Zärtlichkeit der Wölfe“ (1973) bis zu Romuald Karmakars Geniestreich von 1995 mit Götz George als widerlich sympathischem „Totmacher“.

Längst gibt es Haarmann-Adaptionen im Theater, in der Graphic Novel oder im Dark Metal.

Zumindest ein Grund für die anhaltende Faszination dieses Falles dürfte sein, dass er nie genau aufgeklärt werden konnte. Das Spekulationspotenzial ist enorm. So wurde Haarmann zwar am 19. Dezember 1924 für die Ermordung von 24 Jungen und jungen Männern verurteilt.

Doch wie viele „Pupenjungs“, meist Stricher und Herumtreiber des Hannoveraner Bahnhofsviertels, von Haarmann in der Dachkammer in der Roten Reihe 2 im Sexrausch zu Tode gebissen wurden, weiß niemand.

Bei Kurbjuweit steht die Suche nach dem Täter im Mittelpunkt

Über hundert seien es gewesen, vermutete später einer der leitenden Ermittler, doch übernahm Haarmann seinerzeit, vielleicht geschmeichelt von der Aufmerksamkeit, die Verantwortung für alle möglichen Vermisstenfälle („Schreiben Sie man dazu“).

Und haben die Nachbarn wirklich nicht mitbekommen, wie nebenan nächtelang mit Hackebeil und Hammer Leichen zerstückelt wurden?

In Dirk Kurbjuweits Haarmann-Roman (Penguin Verlag, 2020, 320 S., 22 €.) macht sich der leitende Ermittler Robert Lahnstein prompt zum Gespött, als er eines Gerüchtes wegen konfiszierte Wurstscheiben untersuchen lässt; „Kommissar Wurst“ lautet fortan der Spitzname des Protagonisten.

Während sich „Der Totmacher“ ganz auf Haarmanns Befragung durch einen psychiatrischen Gutachter konzentrierte, stehen in Kurbjuweits Roman die Suche nach dem Täter und die politisch-gesellschaftlichen Umstände im Zentrum.

Der 57-jährige „Spiegel“-Journalist hat Lahnstein als Sympathieträger konzipiert: Dieser trauert um den Verlust seiner Familie, ist sich seit den Monaten der Kriegsgefangenschaft seiner sexuellen Orientierung unsicher. Er bekennt sich zur Demokratie und hat nicht zuletzt allmorgendlich Angst davor, dass schon wieder ein verzweifeltes Elternpaar in seinem Büro stehen könnte.

Eine große Leuchte als Ermittler ist Lahnstein nicht, so sehr verrennt er sich zunächst in seinen Spekulationen: Ist der Täter ein Kriegsheimkehrer, der von dem an der Front erlernten Mordhandwerk nicht lassen kann? Oder wollen sich hier vielleicht die örtlichen Anhänger dieses Hitlers an jungen Kommunisten dafür rächen, dass ihr sogenannter Führer gerade in München als Putschist vor Gericht steht? Dabei raunt ihm doch schon auf den ersten Seiten seine Zimmerwirtin zu, dass er besser auf das Auf und Ab der Fleischpreise achten solle.

Kurbjuweit ist sehr am Aktualisierungspotenzial des Falles interessiert

Eine packende Lektüre bietet die Geschichte von Lahnsteins Jagd nach dem mutmaßlichen Serienmörder durchaus. Kurbjuweit wechselt zu Anfang und Ende eines jeden Kapitels die Perspektive und lässt den Leser miterleben, wie die Wege eines jungen Ausreißers und Haarmanns aufeinander zulaufen.

Dieser unglückselige Martin ist als Opfer ebenso fiktiv wie Kurbjuweits Ermittlerfigur. Was an sich kein Problem ist, schließlich steht auf dem Cover Roman und nicht Reportage. Einfach nur Kolportage ist es daher, dass Lahnstein unwissentlich ausgerechnet mit Haarmanns Schwester anbandelt.

Problematischer ist dagegen, dass Kurbjuweit mehr am Aktualisierungspotenzial des Falles interessiert ist als an diesem selbst. Mit der Folge, dass er seinen Roman heillos überfrachtet. Nicht nur den gesellschaftliche Umgang mit den „Hundertfünfundsiebzigern“, wie man Homosexuelle damals nannte, thematisiert das Buch. Auf den Schultern seines Ermittler-Protagonisten soll buchstäblich die Zukunft der jungen Republik lasten.

Denn während in der historischen Wirklichkeit die damaligen Kriminalisten Hermann Lange und Heinrich Rätz die Ermittlungen erst aufnahmen, nachdem zufällig Schädel aus der Leine gefischt worden waren, führt im Roman die empörte Öffentlichkeit längst eine Debatte um Freiheit und Sicherheit in einer Demokratie.

„Zwölf Tote in einem Jahr, und kein Täter, keine Spur?“, bekommt Lahnstein von keinem Geringeren als Gustav Noske, damals Oberpräsident der Provinz Hannover, die Lage erklärt.

Darf der Rechtsstaat zur Not seine Grenzen überschreiten?

Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen kann, ob die Vermissten überhaupt ermordet worden sind. Am Ende glaubt der erleichterte Lahnstein selbst, Haarmanns Überführung – und nicht der beginnende wirtschaftliche Aufschwung – habe das Vertrauen in die Demokratie wiederhergestellt und die radikalen Parteien bei den Reichstagswahlen vom Dezember 1924 abstürzen lassen.

Merkwürdig widersprüchlich bleibt zudem Kurbjuweits Umgang mit der Frage, ob der Rechtsstaat zur Not seine Grenzen überschreiten darf. Also in diesem Fall, ob er, um ein Geständnis zu erzwingen und die Mordserie zu beenden, Foltermethoden anwenden darf. Diese Frage stellte immerhin schon Theodor Lessing in seinem Buch über den Fall, mit einem klaren Nein als Antwort.

Kurbjuweit schenkt dem Kulturphilosophen zwar einen Gastauftritt – aber so wie er in seinem Roman die Verhöre schildert, muss man sagen: Ohne Schlafentzug und Psychoterror, vom immer ratloseren Lahnstein am Ende doch geduldet, wäre der „Werwolf“ wohl kaum eingeknickt. Dabei gehört auch die Frage, inwieweit Haarmanns Geständnis seinerzeit erzwungen wurde oder nicht, zu den nie restlos geklärten Umständen dieses Falles.

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