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Die italienische Schriftstellerin Giulia Caminito, 1988 in Rom geboren.

© Rino Bianchi/Wagenbach Verlag

Faschismus, Anarchie und Bruderliebe: „Ein Tag wird kommen“ ist ein Meisterwerk des Familienromans

Schriftstellerin Giulia Caminito zeichnet in ihrem neuen Buch ein einzigartiges und sinnliches Panorama des turbulenten 20. Jahrhunderts in Italien.

Der Sohn des Bäckers ist weich wie ein Brot ohne Kruste, heißt es, kein Kerl, sondern ein Jüngelchen. Wie soll solch ein armer Tropf auf jemanden schießen, noch dazu auf den eigenen Bruder? Nicola tut es, obwohl er sich vor Angst fast in die Hose macht. Danach ist das Bein seines Bruders Lupo kaputt. Aber Nicola ist Lupos Bitte gefolgt. Von einem, der auszog, das Fürchten zu verlernen.

Mit dieser Szene beginnt Giulia Caminito ihren großartigen Roman „Ein Tag wird kommen“, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt und bei uns hoffentlich ebenso Furore machen wird wie in Italien. Ein Familienroman, der vom Beginn des Faschismus, von Anarchie, der Macht der Kirche und vom Hass der Bauern erzählt, die den „Padroni“ mehr als die Hälfte ihrer Ernteerträge abgeben müssen.

Die Italienerin springt durch die Zeiten, verwebt geschickt die verschiedenen Erzählstränge und zieht ein originelles Bild nach dem anderen hervor, wie Joker aus einem Kartenspiel. Ein Meisterwerk des sinnlichen, fröhlichen Fabulierens, das in der hervorragenden Übersetzung von Barbara Kleiner all seine Reize behält. Fixpunkt in dieser zeithistorischen Tour d'horizon ist die ungewöhnliche Liebe zwischen zwei Brüdern.

Luigi Ceresa besitzt eine Bäckerei in Serra de' Conti, einem kleinen Ort in den Marken. Seine Familie ist vom Pech verfolgt, ein Kind nach dem anderen stirbt, „es hieß, die Raben äßen mit ihnen am Tisch“. Seine Frau Violante hat mehrere Fehlgeburten hinter sich, eine ihrer Töchter, die als junges Mädchen ungewollt schwanger geworden war, lebt im Kloster. Was Violante am Leben hält: die Hoffnung, dass ihr zumindest Lupo und Nicola bleiben und sie niemals von zu Hause weggehen.

Lupo und Nicola, die ungleichen Brüder. Die wie Pech und Schwefel aneinander kleben, genau genommen aber keine Brüder sind. Nicola, der Junge mit dem „Prinzengesicht“, kommt als Baby in die Familie, Luigi Ceresa hat es seiner Frau einfach untergeschoben. Sie, die „Frau mit dem verteufelten Bauch“, die schlecht sieht, hat nicht bemerkt, dass sie ein totes Mädchen zur Welt gebracht hat. Auch wenn sie nichts von dem Kindertausch weiß, wird sie immer spüren, dass Nicola nicht ihr Sohn ist.

Eine Kain-und-Abel-Geschichte mit Happy End

Als Nicola zum träumerischen Schwächling heranwächst, soll sich Lupo, der wilde und starke Bruder, um ihn kümmern, so will es Luigi Ceresa, das Familienoberhaupt. Der Bäcker argumentiert mit dem Schuldprinzip: Als Nicola klein war, hatte Lupo versucht, den jüngeren Bruder, umzubringen, deshalb ist Nicola ein solcher Feigling geworden.

Also eine Kain-und-Abel-Geschichte, nur mit Happy End. Lupo nimmt den Auftrag an und umsorgt den Bruder liebevoll. Dafür verlangt er später als Gegenleistung, dass Nicola auf ihn schießt. Es soll kein tödlicher Schuss sein, aber eine anständige Verletzung. Warum? Damit Lupo nicht in die Armee eingezogen wird. Später muss Nicola an die Front des Ersten Weltkriegs. Keiner glaubt, dass er jemals wiederkommt.

[Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020. 272 Seiten, 23 €.]

Giulia Caminito gelingt es, ihre Figuren so lebendig zu machen, als stünden sie direkt vor einem. Gerade weil sie immer neue, ungewöhnliche Bilder findet, werden ihre Protagonisten nicht zu Stereotypen.

Da heißt es zum Beispiel über die strenge Nonne Suor Clara, die mit dem Alter immer schlechter sieht, sich aber von dem heuchlerischen Priester des Dorfes, Don Agostino, nichts sagen lässt: „Doch diese Energie in der Stimme schien nie weniger zu werden, sie tönte wie fünfzig Buchfinken und hundert Orgelpfeifen.“

Lupo spuckt einem Carabiniere vor die Füße

Die 32-jährige Caminito setzt mit „Ein Tag wird kommen“ ihrem Urgroßvater ein Denkmal, wie sie im Nachwort schreibt: Nicola Ugolino, ein Anarchist, der sich nie taufen ließ und seine Frau erst heiratete, als sie auf dem Totenbett lag, gezeichnet von der Spanischen Grippe.

Im Roman ist es Lupo Ceresa, der sich den Anarchisten anschließt und Errico Malatesta, deren legendären Anführer, verehrt. Bei einer Demonstration, die von der Polizei gewaltsam niedergeschlagen wird, gerät Lupo in Lebensgefahr.

Ein Polizist erkennt ihn, und ihm schwant Unheilvolles, würde er Lupo Ceresa töten: „... Lupo war ein Tier der Nacht, war ein Zeichen der Verdammnis, er würde einen im Traum verfolgen, würde einen mit hinunterreißen unter die Erde.“ Also lässt der Polizist ihn laufen. Und was tut Lupo, zum Dank? Er spuckt dem Carabiniere vor die Füße.

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