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In der Lagunenstadt Venedig verbringt unsere Autorin ihre Sommer.

© Jens Kalaene/dpa/picture-alliance

Farben des Sommers (8): Blaumachen

Von Lagunenblau bis Helltürkis: In der italienischen Sommerhitze beginnen Städte zu schwimmen und der Mensch begegnet sich selbst wieder.

Diese Kolumne trägt ohne Zweifel ein erhöhtes Blaustich-Risiko. Blau ist nun einmal die Farbe der Unendlichkeit. Unsere Sprache kennt das seltsame Wort „Blaumachen“. Handwerker hatten früher einen „blauen Montag“, das war der mit akut verminderter, tendenziell eingestellter Arbeitsleistung. Die Bedeutung ist geblieben: vorsätzlicher Absentismus vom Berufsleben, probeweiser, temporärer Eingang in die Unendlichkeit. Entgrenzung der Begrenzten.

Aber was heißt überhaupt „blau“? Nur farbenblinde Indifferentisten sagen „blau“. Hier öffnet sich ein ganzer Kosmos. Meine Farbe dieses und jedes anderen Sommers ist „lagunenblau“.

Das ist so, seit ich an einem losgebundenen Tag aus der meerfernen italienischen Sommerhitze nach Venedig kam und bei San Zaccaria ein Schiff bestieg, das irgendwohin fuhr. Im Zwischendeck sitzen, mit einem sehr dicken Philosophiebuch von der Art, wie es sich eher nicht von allein liest, und auf die Lagune schauen. Das Schiff war langsam, eine große Entschleunigerin, aber es hatte recht: Da war weit und breit kein Grund, sich zu beeilen. Der Himmel hatte die gleiche Farbe wie das Wasser, in der Mitte schwamm die Stadt, die ganze Welt blaulöslich, lichtlöslich, sommerlöslich, unendlichkeitslöslich, und es geschah: Buch und Lagune, Tag und Stadt wurden eins. Sommer ist seitdem, wenn die Städte schwimmen, bisher hat es nur diese eine gelernt. Insofern wären blaue Tage Wiederbegnungstage des Menschen mit sich selbst und der Welt.

Wer nicht blaumachen darf, streicht blau

Lagunenblau also. Das gibt es wirklich, siehe Bondex Dauerschutzfarbe Lagunenblau, 750 ml für 16,99 Euro bei Obi. Satter Grün-Blau-Mischton, vielleicht etwas zu dunkel. Blaumachen hieße also, zumindest in meinem Fall, Blaugrünmachen.

Dabei bin ich allergisch gegen Grün-Blau-Mischtöne, denn das Farbtrauma meiner Jugend hat einen Namen: Türkis. Türkis ist der nächste Nachbar von Lagunenblau. Ich weiß nicht, wann das anfing, aber plötzlich gab es fast nichts, was unsere Eltern sich nicht in Türkis vorstellen konnten: Badezimmerwände ohnehin, Schränke und Balkone. Lauter deplatzierte Unendlichkeiten. Wer nicht blaumachen darf, streicht blau. Mein Vater warf nichts weg, und so bereitete es ihm, ästhetisch schwer irritierbar, höchste Befriedigung, alle Farbreste in das Türkis zu mischen. Darum war unser Balkon der hässlichste weit und breit.

Von meiner Ferienwohnung aus schaue ich auf die Lagune und prüfe schon seit Tagen die Farbe. Lagunenblau ist fast nie dabei. Meine Vermieterin zählte auf, welche Faktoren die Lagunenfarbe bestimmen. Der Wasserstand natürlich und die Windrichtung. Der Scirocco macht einen ganz anderen Ton als die Bora. Wichtig ist natürlich auch das, was da alles reinkommt in die Lagune. Und das meint nicht nur die Mitbringsel der Flüsse.

Gibt es das: eine schmutzige Unendlichkeit?

Kanal. Kanalisation. Nur Venedig besaß immer eine Kanalisation, oberirdisch, was über die Jahrhunderte gewiss zu den eigentümlichsten Verfärbungen führte. Lord Byron soll trotzdem regelmäßig durch den Canal Grande bis zum Lido geschwommen sein. Ich habe noch nie jemanden in der Lagune baden sehen. Gibt es das: eine schmutzige Unendlichkeit?

In diesem Jahr hat Venedig sein Müllproblem gelöst: Mülleimer gab es hier noch nie, dafür legten die Leute ihre Beutel in die Gassen. Ist jetzt streng verboten. Wer es nicht schafft, mitsamt seines Abfalls am frühesten Morgen, also gegen acht, an einem Müllboot zu erscheinen, hat ein Problem. Überall lauern die Müllspitzel.

Keine Ahnung, was die anderen machen, ich fahre über die mal graugrüne, mal bleigraue Lagune zum Lido und versenke dort in den Papierkörben, was Venedig nicht haben will. Neulich auf dem Rückweg war das Wasser erst von großartigstem Lagunenblau und danach von balkonfernstem Helltürkis. Sie machte blau wie nie. Das passiert genau dann, wenn der Himmel schon gewitterschwarz ist, die Sonne aus einer Lücke aber trotzdem noch aufs Wasser scheint.

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