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Für Hayan (Yong Mei), ihren Mann Yingming (Wang Jingchun) und ihren Sohn Xingxing steht das Leben unter dem Stern der kommunistischen Partei.

© Piffl Medien

Familiendrama über Chinas Ein-Kind-Politik: „Bis dann, mein Sohn“ untersucht Nahtstellen der Menschlichkeit

Hauptdarstellerin Yong Mei und ihr Partner Wang Jingchun erhielten für ihr herausragendes Spiel den Silbernen Bären.

Einmal finden sich die drei Paare im Arbeiterwohnheim zu einer Privatparty zusammen. Die korrekte Hayan mag es nicht, dass ihr verrückter Kollege, der so gern Tropfenbrille und Schlaghosen trägt, mit seiner Verlobten Rock ’n’ Roll tanzt. Also schiebt die Verlobte eine Kassette mit der chinesischen Version von „Nehmt Abschied, Brüder“ in den Rekorder, und alle werden still. Die Ballade haben sie 1978 gesungen, damals, als sie vom Arbeitseinsatz auf dem Land in die Stadt zurückkamen. Man wusste ja nicht, ob man sich wiedersehen würde.

Sechs Leute in einem kleinen Zimmer, und um sie herum dieses riesige Land, China, dessen tektonische Verschiebungen sich unter kommunistischer Herrschaft bis in das Wohnheim mit der Gemeinschaftsküche auswirken, bis in den verborgensten Seelenwinkel. Xinjian, der Schlaghosenträger, wird im Gefängnis landen, wegen der Teilnahme an einer „Dunkelparty“. Yaojun und Liyun verlieren ihren einzigen Sohn Xingxing bei einem Badeunfall, der Sohn ihrer Freunde ist dabei.

Sie ziehen in eine Hafenstadt im Süden, wo sie den Dialekt nicht verstehen und ein bescheidenes Dasein als Handwerker und Netzflickerin führen. Mit den Freunden aus dem Norden bleiben sie schicksalhaft verbunden, mit Hayan, die in der Metallfabrik zur Vorgesetzten aufsteigt, ihrem Mann Yingming, der sich selbstständig macht, und ebenderen Sohn Haohao, der auf den Tag genauso alt ist wie Xingxing.

Schmerzhaft, aber nie schwermütig

Wobei Schicksal nicht das richtige Wort ist. Dieser so verhaltene, schmerzhafte und doch niemals schwermütige Film erzählt davon, wie Menschen schuldig aneinander werden und dabei menschlich bleiben. Weil das Regime ihnen keine Wahl lässt, weil sie sich allen Kompromissen zum Trotz ihre Güte bewahren. „Bis dann, mein Sohn“ zeigt, welche Kraft die Menschlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen kostet.

Wang Xiaoshuai, Protagonist der sechsten Generation von Chinas Filmemachern, erkundet die Nahtstellen des Persönlichen und des Politischen seit seinem Debüt „Wintertage, Frühlingstage“. Die unabhängige Produktion handelte von der Entfremdung eines Liebespaars und kam 1993 auf die schwarze Liste. Ob es die Klassenfrage unter Jugendlichen in Peking ist – in „Beijing Bycicle“, der 2001 den Silbernen Bären erhielt – oder zuletzt in „Red Amnesia“ ein Verrat aus Zeiten der Kulturrevolution, der bis in die Enkelgeneration nachwirkt: Immer ringen seine Filme um Empathie.

Eigentlich führen Yaojun und Liyun ein einfaches Leben in ihrer Provinz-Hafenstadt. Er trinkt ein bisschen viel, sie sorgt sich um den halbwüchsigen Adoptivsohn, dem sie den Namen ihres gestorbenen Kindes gegeben haben. Beinahe unmerklich entfaltet sich in Vor- und Rückblenden die Widrigkeit ihrer Existenz. Die von der Vorgesetzten-Freundin befohlene Zwangsabtreibung im Zuge der Ein-Kind-Politik samt Ordensverleihung vor versammelter Belegschaft. Der Jobverlust nach der Wirtschaftsliberalisierung. Die Unmöglichkeit, der Jugend eine Zukunft zu geben, das Versagen der Freundschaft, der Familienbande: Auch der Adoptivsohn verlässt sie.

Familiendramen gibt es in jedem Unrechtsstaat

„Bis dann, mein Sohn“, der Titel deutet es an: Das Leben verläuft nicht linear, sondern mäandert zwischen Abschied und Rückkehr. Vergangenheit und Gegenwart sind unentwirrbar verflochten; die Geschichte mag verblassen, aber sie meldet sich mit Macht zurück. Also wechselt der Film mit schwebender Leichtigkeit und bestürzender Sinnfälligkeit zwischen den Zeitebenen, von den Achtzigern bis 2011, ohne dass man den Faden verliert.

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Schon das macht ihn zu einem Meisterwerk. Hinzu kommt das ergreifende Spiel der beiden Hauptdarsteller Wang Jingchun und Yong Mei. Trauer, Untreue, Verdrängung, die kleinen Lebensfreuden, die nie ganz verschüttete Zuneigung, alles spiegelt sich in ihren Gesichtern. Keine expressiven Gesten, sondern scheue Alltagsmomente: Bei der Berlinale im Februar wurden sie dafür mit zwei Goldenen Bären ausgezeichnet.

Familiendramen finden sich in jedem Unrechtsstaat. Die Verstrickung einfacher Leute, die in Frieden leben wollen, der Riss quer durch Familien und Freundschaften, es gab sie auch in der DDR, in der NS-Zeit, oder heute in der Türkei oder in Russland. Aber der koreanische Kameramann Kim Hyun-Seok filmt die Schauplätze mit einer Sorgsamkeit, dass sie unverwechselbar werden. Das ärmliche Zuhause am Hafen samt Kochstelle und Außentreppe, die Arbeiterwohnung von früher, die Fabrik, die Notaufnahme der Klinik, der See, in dem der Junge ertrinkt, es wird einem sehr vertraut.

Der schönste Film des Jahres

In einem der aktuellen Interviews zu seinem Kriegsfilm „Midway“ erinnert sich Actionregisseur Roland Emmerich an seine Tage als Jurypräsident bei der Berlinale 2005. An seinen Unwillen, „wenn wieder ein dreistündiger Schwarz-Weiß-Film über chinesische Bauern lief“. Abgesehen davon, dass in dem Jahr nur ein 140-minütiger Chinese in Farbe dabei war und in solchen Filmen garantiert nicht weniger passiert als in Emmerichs Materialschlachten: Sollte er auch Wang Xiaoshuais Dreistünder (in Farbe und Breitwandformat) meiden, verpasst er den schönsten Film des Jahres.

Zuletzt sehen die drei Paare sich wieder, sprechen zum ersten Mal über ihre Versäumnisse, ihre Schuld. Die einen bitten um Vergebung, die anderen vergeben ihnen. Der Zusammenhalt unter unmöglichen Bedingungen, der Versuch der Versöhnung, es ist der größte Kraftakt. Als es auf dem Flug in die frühere Heimat Turbulenzen gibt, fassen Yaojun und Liyun einander an der Hand. „Komisch“, sagt Liyun, „dass wir immer noch Angst haben zu sterben.“ In der Metropole im Norden steht die Präsidentenstatue jetzt vor einer Shoppingmall.
In den Kinos Delphi Lux, FT am Friedrichshain, Passage, OmU: Hackesche Höfe, Odeon, Passage, Wolf

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