zum Hauptinhalt
An Schulden kann die ganze Welt zerbrechen, und auch die EU ist dagegen nicht gefeit.

© Shutterstock / Eclipse Digital

Extremismus der Mitte: Schuldenmacher Staat

Wer zahlt für die Hyperglobalisierung? Ein Sammelband von Ökonomen und Politikwissenschaftlern rechnet mit neoliberalen Strategien ab.

Der „Extremismus der Mitte“ ist als Interpretationsfigur weit über die historische Faschismusforschung hinaus brandaktuell geworden. In den entsprechenden Studien wird das rechtsextreme Feld nicht mehr am Rand, sondern in der Mitte der Gesellschaft verortet. Das blieb theoretisch nicht unwidersprochen, lieferte dem Phänomen wutbürgerlicher Enthemmung jedoch ein begriffliches Besteck.

Lässt sich diese Mitte soziologisch noch umreißen, verhält es sich mit der politischen Mitte, in die so ziemlich alle Parteien streben, schwieriger. Mitte ist ein von den „Extremen“ bedrohter Ort. Wenn aber alle dorthin drängen, wird diese Mitte bedeutungsleer. In ihrer Verkleidung als liberale Demokratie maßt sie sich eine Dignität an, die im Zeitalter des Neoliberalismus, so der Schriftsteller, Filmemacher und Aktivist Tariq Ali in einem aktuellen Aufsatzband zum Thema, nur noch Fassade ist.

Die politische Mitte, schreibt er in seinem Beitrag, der dem 2015 erschienenen Buch „The extreme Centre“ entnommen ist, sei in dem Maße „extrem“ geworden, wie die politische Elite den Kapitalismus als „Schutzgebiet für kriminelle Banden“ einhebe und garantiere: „Als Exekutivkomitee des Finanzkapitalismus ist der Staat auf dem deregulierten Markt nur noch zum Eingreifen aufgefordert, wenn es darum geht, den Kapitalismus vor dem völligen Zusammenbruch zu retten, wie in der Finanzkrise 2008 geschehen.“

Ausgangspunkt Corona

Klingt nach Lenin. Und doch wird uns die Tatsache, dass der Staat die auch in der Coronakrise hervorgetretene „organisierte Verantwortungslosigkeit“ (Ulrich Beck) immer mühsamer abfedert, noch auf den Leib rücken. Die Coronakrise ist der Ausgangspunkt des gesamten Bandes.

Mit Ausnahme der beiden Texte von Tariq Ali handelt es sich um unter dem Eindruck des Lockdowns entstandene Diagnosen, die je nach Temperament im Impetus radikaler Mobilmachung (Ali), kühler Sezierung wie bei Wolfgang Streeck und Peter Wahl, seminaristischen Überfliegertums (Rainer Mausfeld) oder besserwisserischen Understatements daherkommen. „Eine Warnung“, lautet der Tariqs Buch entliehene Untertitel, mit der die durchweg männlichen Autoren die Debatte über die extremen Folgen des neoliberalen Regimes in Gang setzen wollen.

[Tariq Ali, Heiner Flassbeck, Rainer Mausfeld, Wolfgang Streeck, Peter Wahl: Die extreme Mitte. Wer die westliche Welt beherrscht. Eine Warnung. ProMedia, Wien 2020.

152 Seiten, 17,90 €.]

Der Corona-Schock ist auch spürbar in Wolfgang Streecks profunder Analyse des „gescheiterten Konsolidierungsstaats“. Bevor das Virus seinen Siegeszug antrat, war der Staat noch gehalten, die Verluste der Globalisierungsverlierer auszugleichen. Da die „Weltrisiken“ (Beck) nicht mehr zu versichern sind und kein Verursacher dafür habhaft zu machen ist, gibt es auch „kein Konto“, so Streeck, von dem die Vorsorge- und Folgekosten der Hyperglobalisierung zu begleichen wären.

Also kann, wenn überhaupt, nur der Staat einspringen, um Schutzausrüstung zu besorgen, Impfstoffe entwickeln zu lassen oder die Unbeschäftigten per Transferleistungen zu alimentieren.

Warum nicht gleich ein Grundeinkommen?

Die Staaten, die durch EU-Regeln oder Kreditgeber gezwungen sind, ihre Bonität auf den internationalen Geldmärkten nachzuweisen, geraten in ein Dilemma. Politische Sprengkraft verbirgt sich außerdem in einer Fußnote: Wenn nämlich die EU und die Staaten unbegrenzt Geld schöpfen können, was wird dann aus der Vorleistungsbereitschaft eines „Marktvolkes“, das auf Leistungs- und Arbeitsdisziplin konditioniert ist? Warum sollten ihm die unerschöpflichen Geldmittel nicht auch nach der Krise zugutekommen, etwa in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens?

Unisono beklagen die Autoren deshalb die Geburtsstunde des Euro im Maastricht-Vertrag, um dessen Stabilität willen vor allem Deutschland eine rigide monetaristische Geld- und Austeritätspolitik durchgesetzt hat. Den südlichen und osteuropäischen Mitgliedsländern blieb nur die Alternative, aus der Gemeinschaftswährung auszusteigen oder sich um den Preis nationaler Souveränität unter einen EU-Rettungsschirm zu flüchten.

Die Angst vor Schulden, so Heiner Flassbeck, sei allerdings ideologisch geprägt und Ausfluss deutscher Überheblichkeit, die den eigenen Weg zur Maxime erhoben habe. Dies verkenne, dass nicht nur Schulden, sondern auch Forderungen an die jüngere Generation vererbt würden.

Im Ton nicht weniger selbstgerecht als die befehdeten Ökonomen räumt Flassbeck immerhin ein, er habe sich nicht vorstellen können, dass die rot-grüne Koalition, der er diente, „als ‚moderne Mitte‘ zu Lohndrückern und Deflationstreibern“ werden könnte.

Euro-Kitsch als Ersatz für nationale Weihen

Auch für den Attac-Begründer Peter Wahl steht außer Frage, dass falsche ökonomische Konzeptionen bei der Einführung des Euro dazu geführt haben, dass die EU derzeit so instabil wirkt. Aufschlussreich ist seine bissige Betrachtung des „Euro-Kitsches“, mit dem EU-Politiker beiderlei Geschlechts Europa eine nationale Weihe zu geben versuchen, um den Bedeutungsverlust zu kaschieren: Der „Rückgriff auf die traditionellen Muster von Militarisierung und Großmachtpolitik“ zeige „die Rückwärtsgewandtheit der extremen Mitte EU-Europas“.

Um den Zwängen eines Integrationstyps zu entkommen, „der einmal für die Etablierung von Nationalstaaten gedacht war“, schlägt er selektive, weniger hegemoniale Integrationsmodelle und wechselnde Koalitionen ohne Blockierungsmacht einzelner Staaten vor.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Der Band schließt mit einem weiten Aufriss über den Aufstieg der Elite in die „leere Mitte“, der bis in die Anfänge des Liberalismus zurückgeht. Rainer Mausfeld lässt keinen Zweifel daran, dass sich der Neoliberalismus als Extremform gegen Konservativismus und Sozialismus etablierte, weil er seine partikularistischen (Eigentums-)Interessen mit universalistischen Begründungen maskieren konnte. In ihrem Kern sei die liberale Demokratie „zutiefst antiegalitär und antidemokratisch“.

Sie erkläre die Gesetze des Marktes zur Natur und verhelfe ihm zu ihrer Durchsetzung, insofern sei von einer „extremistischen Ideologie“ zu sprechen. Als „Projekt radikaler Entdemokratisierung leitet es zwangsläufig die Epoche der eigenen Selbstzerstörung ein“. Unabhängig davon, ob hier der Wunsch Vater des Gedankens war, ist uns auch in diesem Fall das Erbe sicher.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false