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Konzentration und Leidenschaft. Das Ensemble Epitaph bei einem Auftritt für das „Experimental Concert Research“.

© Phil Dera

Experiment im Konzertsaal: Lieben Sie Brahms? Sehr, etwas, gar nicht?

Um herauszufinden, wie klassische Musik wirkt, ließen sich Konzertbesucher verkabeln. Da stellt sich manche Sinnfrage.

Ich muss noch Wäsche waschen! Und wann ist der Zahnarzttermin? Dem Musiker sitzt eine Fliege auf der Nase.

Selbst bei etwas so Hochkulturellem wie einem klassischen Konzert schießen den Zuhörer*innen die niedersten Gedanken durch den Kopf. Wer hier Unschuld reklamiert, ja einen ausschließlichen Fokus auf die Musik setzt; wer glaubt, sich freisprechen zu können von der Last der eigenen Gedanken – und, schlimmer noch, der Sorge um die Gedanken der anderen –, der könnte auch nackt ins Konzert gehen.

Solche Gedanken und Gedankengedanken kommen mir, während ich in den Streichquintetten des „Experimental Concert Research“ sitze – und das alles andere als nackt. Im Gegenteil: Ein Atemgurt umspannt meinen Brustkorb. Handschuhe und Sensoren messen meine Hautleitfähigkeit. Infrarot-Kameras zeichnen mit 50 Frames pro Sekunde jede Bewegung meines Körpers auf. Klassik im Panoptikum.

Elf Abende, jeweils bis zu 200 Zuhörer*innen: Gigantische Datenmengen erwarten das interdisziplinäre Team unter der Leitung des Kultursoziologen Martin Tröndle. „Das sind pro Konzert Terabytes an Daten“, sagt er. Die Auswertung werde „zwei bis vier Jahre“ dauern. Tröndle, Hornbrille, schwäbischer Akzent, hat in einer Vorgängerstudie bereits die Physiologie von Museumsbesucher*innen untersucht.

Beim Vorgespräch redet er fast durchgehend mit geschlossenen Augen, so als müsse er schon mal Platz schaffen auf seiner inneren Festplatte. Die Frage, die er und sein Team beantworten wollen, ist aber kurz und knapp: „Wann wirkt Musik wie auf wen?“

Um das herauszufinden, variierten sie an jedem Abend bestimmte Parameter: Mal gab es eine Moderatorin, die etwas zu den Stücken sagte, mal nicht; mal spielte ein junges Ensemble, mal ein altes. An einem Abend wurde der Ton mit einem Dolby Surround-System verstärkt, ein anderer fand als „Late Night-Konzert“ statt.

„Um 22.30 Uhr ist man in einem anderen Biorhythmus“, erklärt Tröndle. Er will wissen, was all diese Faktoren an der Art ändern, wie das Publikum die Musik wahrnimmt. Das Programm selbst bleibt immer gleich: Streichquintette von Beethoven, Brett Dean, und Brahms. Es ist jenes nicht so ganz fassbare Drumherum, das die Forscher*innen interessiert.

Sekt und Stille, Schmuck und Sakko, Sehen und Gesehenwerden: Das alles ist Teil eines eingeschliffenen Apparates. Ihn bricht das Projekt allein schon dadurch auf, dass es das Publikum verkabelt, das Innere des sakralen Konzertraums wissenschaftlich vermisst. Sinkende Besucher*innenzahlen und der Schock der Corona-Ausfälle machen dieses Unterfangen sicherlich leichter.

Ein „new deal“ für die Klassik

Die Kritik an erstarrten Programmen und obszönen Spitzengagen, sie wird lauter. Von einem „Klassikkampf“ schrieb der Konzertagent Berthold Seliger schon vor der Pandemie, der Kulturmanager Folkert Uhde forderte kürzlich gar einen „new deal“ für die Klassik.

„Wie können wir dieses kulturelle Erbe, das 500 Jahre alt ist – wie können wir das ins 21. Jahrhundert transportieren?“, fragt auch Martin Tröndle. Ein weiteres Mittel, das er deshalb untersucht, ist die Beteiligung des Publikums. Bei meinem Konzertabend soll man beim mittleren Teil an eine geliebte, „verlorene“ Person denken.

Vorher hat man sogar einen Zettel bekommen, um den Namen darauf zu notieren. Cellist Alban Gerhardt erklärt in der Mitte des Konzertes außerdem, dass er und die anderen Musiker*innen beim Spielen selbst auch an jemanden dächten, den sie „verloren“ hätten.

Mir kommt das übergriffig vor. Ich weigere mich. Effekthascherei ist kein guter Ersatz für Langeweile. Und überhaupt: Wie sollen die erhobenen Messwerte wirklich etwas darüber aussagen, wie ich mich bei der Musik gefühlt, woran ich beim Hören gedacht habe? Vielleicht ja gar nicht an meinen toten Onkel, sondern an Helmut Kohl? Nicht an Brahms, sondern an meine Schwiegermutter?

Tröndle weiß um diese Probleme. Befragungen vor und nach dem Konzert sollen die Datenmengen aussagekräftiger machen, die das Team erhebt. Vorher fragen die Forscher*innen nach Alter, Vorbildung, Interessen ihrer Proband*innen; danach hören diese sich Ausschnitte an, bei denen sie besonders ausgeprägte Messwerte aufwiesen, und sollen beantworten, wie ihnen die Stellen gefallen haben. Smart: Den unergründbaren Rest ihrer Subjektivität sollen die Versuchskaninchen selbst auflösen.

Mir fällt es schwer, den Fragebogen auszufüllen. Hat mich die Stelle jetzt „eher“ oder „sehr“ „interessiert“? Und auch „begeistert“? Und antworte ich nach einer halben Stunde Fragebogenausfüllen immer noch so akkurat wie zu Beginn? Einen weiteren Kritikpunkt an der Studie nennt Tröndle selbst: „Wir fragen die Stelle ab, die auf dem Computer gezeigt wird, und nicht die Stelle, die Sie vor einer halben Stunde gehört haben.“

Schon allein die Tatsache, dass man zu einer bestimmten Stelle befragt wird, verändert deren Bedeutung. Dass man dabei rundherum beobachtet wird, ja, dass man sich freiwillig zu einer wissenschaftlichen Studie begeben hat, tut sein Übriges. Die Messung verschiebt das, was sie messen soll. Sie bringt es im Zweifel erst hervor.

Und welchen Sinn hat es überhaupt, verschiedene Variablen eines Konzertbesuchs durchzuspielen – wenn daran jeden Abend ein anderes Publikum teilnimmt?

Dieser Effekt sei zu vernachlässigen, glaubt Tröndle. „Statistisch gesehen ist das egal.“ Solange sich Merkmale wie Alter, Geschlecht, Kenntnisstand ähnelten, könne man die verschiedenen Publikumsgruppen ohne Probleme vergleichen.

Aber das führt auf ein weiteres Problem von „Experimental Concert Research“. Diejenigen, die klassische Musik erreichen will, soll, müsste, um sich wieder von einer Elitenveranstaltung zur Bereicherung für breite Schichten zu entwickeln - die sind auch bei Tröndles Konzerten nicht anwesend.

Tech-Nerds kämen dorthin, wendet er ein, Neugierige, Menschen, die sich für die Messung und das extravagante Forschungsprojekt interessierten, obwohl sie sonst nicht viel mit klassischer Musik zu tun hätten. Aber die große Gruppe der „Nicht-Besucher“, über die er auch selbst schon geforscht hat: Die erreicht er nicht.

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