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 „Defender Europe 2020“ sollte das größte Nato-Manöver seit 25 Jahren werden.

© dpa

Europas Anspruch an sich selbst in der Welt des 21. Jahrhundert: Wehrhaft werden

Bücher zur Sicherheitspolitik von Hans-Peter Bartels und Hans-Dieter Heumann.

Europa? Ist das nicht diese Ansammlung von Staaten, die immer dann besonders heftig untereinander streiten, wenn eigentlich ein starkes Miteinander gefordert wäre? Ob die Frage der richtigen Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001, ob die Frage des richtigen Engagements in Afghanistan, im Irak und in Syrien, ob die Frage der richtigen Mittel gegen die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 und folgend die europäische Schuldenkrise, ob die Frage des richtigen Umgangs mit der Flüchtlingskrise von 2015 oder schließlich nun die Frage der richtigen Bekämpfung der Corona-Pandemie: Dem Namen Europäische Union wurden und werden die Europäer im engeren Sinne kaum gerecht. Wird sich dies jemals ändern? Was müsste passieren, damit es dazu käme?

Anspruch und Wirklichkeit

Hans-Peter Bartels hat sich zur Beantwortung dieser Fragen auf das Feld der Sicherheitspolitik in Europa begeben. Zwar klaffen dort seit jeher Anspruch und Wirklichkeit der EU auseinander. Aber durch die Remilitarisierung außenpolitischen Agierens nicht nur in Syrien, sondern auch in Europa durch Russland sind die europäischen Versäumnisse der letzten Jahre nun erst recht sichtbar und spürbar geworden. Begriffe wie „geopolitische Kommission“ oder mantrahaft vorgetragene Forderungen nach mehr Verantwortungsübernahme durch auch im geografischen Sinne zentrale Staaten Europas wie Deutschland führen die von Krise zu Krise, von Herausforderung zu Herausforderung immer weiter auseinandergehende Schere zwischen Theorie und Praxis deutlicher denn je vor Augen.

Bartels betrachtet diese Entwicklung nicht nur mit überaus verständlicher Sorge, sondern auch mit einem derart klaren Blick auf die globalen Realitäten, wie er in Deutschland bislang nur selten anzutreffen ist. Schnörkellos beschreibt der ehemalige Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages das internationale Umfeld, in dem die Bundesrepublik gemäß der Präambel des Grundgesetzes als gleichberechtigtes Mitglied der Völkerfamilie einen Beitrag zum „Frieden der Welt“ leisten soll.

Überall Einflusssphären

Nüchtern stellt er fest, dieses Umfeld verschiebe sich in Richtung Geopolitik: „Alle Welt scheint sich Einflusssphären und Stützpunkte zu sichern und in Positionsmanövern die Ausgangslage zu verbessern für das, was kommt.“ Nach der Corona-Pandemie, möchte man direkt ergänzen. Die Vorstellung, diese neueste weltweite Krise werde zu deutlich mehr globaler Zusammenarbeit führen, stellt sich bereits jetzt als irrig heraus. Vielmehr versuchen sowohl China wie Russland, den schon durch die Krisen der letzten Jahrzehnte wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich angeschlagenen Westen in der Coronakrise weiter zu destabilisieren.

Das russische und chinesische Verhalten passt nahtlos in die Multipolarität der Gegenwart, wie Bartels sie treffend charakterisiert: Das Recht des Stärkeren gewinnt enorm an Bedeutung. Tatkräftiger Unilateralismus verdrängt die Politik des Ausgleichs, des Verhandelns und Verträgeschließens, die Politik von Kooperation und Partnerschaft – alles in allem den effektiven Multilateralismus, den Deutschland hochzuhalten versucht.

Strategische Autonomie

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung mahnt Bartels, dass Europa sich „strategische Autonomie“ erarbeiten müsse. Für die Bewältigung dieser Aufgabe sieht er Deutschland und Frankreich als zentral an – erst recht nach dem Brexit. Die Nato als transatlantische Klammer funktioniert nach seinem Urteil im Prinzip noch, sehe sich aber durch die „Trump-USA“ und die „Erdogan-Türkei“ unterschiedlichen Belastungsproben ausgesetzt. Zugleich – auch hier zeigt sich Bartels angesichts des in Deutschland bisweilen stark verklärten Blicks auf Russland wohltuend als Realist – befürwortet er die Rückkehr des konventionellen wie atomaren Abschreckungsprinzips im Westen seit der russischen Krim-Annexion 2014.

Ob man allerdings wirklich schon davon sprechen kann, dass Europa sich nicht nur eine strategische Autonomie erarbeiten muss, sondern es auch will, wie Bartels feststellt, dürfte zu bezweifeln sein. Als Belege für seine These, die Gründung einer Europäischen Armee habe längst begonnen, nennt er das Framework Nation Concept einer militärischen Europäisierung von Nato-Europa und die Permanent Structured Cooperation für EU-Europa. Darüber hinaus lobt er Deutschland und die Niederlande als role model für die Herausbildung europäischer Inseln funktionierender Kooperation auf bilateralem Weg.

Kleinstaaterei? Integration!

Doch all dies sind bislang ebendies: Inseln. Und so fordert auch Bartels, dass nun zügig die lange aufgeschobene Verteidigungsunion – weniger Kleinstaaterei, mehr europäische Integration – Wirklichkeit werden muss, wenn Europa für die Bedrohungen und Gefahren der neuen Zeit gerüstet sein will. Das Europa der Verteidigung benötigt nach seiner Analyse über die insgesamt 1,5 Millionen Soldaten der EU-Mitglieder hinaus kein „größeres“ Militär, sondern viel mehr Effektivität.

Hier setzt auch Hans-Dieter Heumann an. Der langjährige Diplomat – unter anderem an den deutschen Botschaften in Washington, Moskau, Paris und Botschafter beim Europarat – sowie ehemalige Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik rechnet vor, dass die Mitgliedstaaten der EU mit ihren addierten Verteidigungsausgaben von rund 250 Milliarden Euro an zweiter Stelle in der Welt stehen, hinter den USA. Allerdings verwenden die Europäer diese beachtlichen Mittel zu 80 Prozent national. Durch die damit verbundene Ineffizienz gehen der EU jedes Jahr insgesamt 100 Milliarden Euro verloren. Daher belässt es die Europäische Kommission nicht mehr länger bei der Forderung einer gemeinsamen Rüstungspolitik Europas. Brüssel finanziert sie nun auch mit eigenen Mitteln, die sich allerdings im Verhältnis zu den nationalen Aufwendungen immer noch bescheiden ausnehmen: In den Jahren 2021 bis 2027 sollen insgesamt bis zu 13 Milliarden Euro mobilisiert werden.

Französische Nukleargarantie?

Bei Heumann wird einmal mehr klar: Solange die militärischen Fähigkeiten der Europäer auf 27 verschiedene Armeen aufgeteilt bleiben, wird die EU in ihrer kollektiven Verteidigung nicht strategisch autonom sein können. Zwar würde eine Europäische Armee auch nach Heumanns Einschätzung der strategischen Autonomie schon sehr viel näherkommen. Aber er bringt zugleich auf den Punkt, was nicht zuletzt in Deutschland bis heute einem politischen Tabu gleicht: schon allein die Diskussion über die Frage, ob der Besitz von Nuklearwaffen nicht Bedingung ist für die gerade in den letzten Jahren so oft geforderte, aber bislang nicht erreichte strategische Autonomie Europas. Da es seit dem Brexit mit Frankreich nur noch ein EU-Mitglied gibt, das über atomare Waffensysteme verfügt, würde nach Heumanns Urteil eine französische Nukleargarantie für die EU durchaus eine glaubwürdige Abschreckung darstellen – und sie läge in der Logik der 2017 ohnehin bereits beschlossenen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion.

Da aber zugleich Frankreich auf der nationalen Souveränität der Verfügung über seine Nuklearwaffen besteht, verortet Heumann ebendort die Grenzen der europäischen Souveränität und damit auch der strategischen Autonomie der EU. Umso stärker plädiert er für ein neues Paradigma der strategischen Diplomatie der EU, das der Realität der globalen Kräfteverschiebungen Rechnung trägt. Die EU solle die USA, China und Russland gleichbehandeln, sich nicht zwischen ihnen entscheiden müssen. Sie könne so dazu beitragen, den amerikanisch-chinesischen Konflikt zu entschärfen oder neue Konfrontationen und Koalitionen, die sich gegen andere richten, zu vermeiden. Die europäische Diplomatie würde damit auf globalen Ausgleich, auf die Vermeidung von Rivalität ausgerichtet.

Es geht um Glaubwürdigkeit

So gut dies in der Theorie klingen mag: Würde dies auch in der Praxis gelingen? Wäre die EU in der Lage, wie Heumann hofft, sich nicht in Gegensätze hineinziehen zu lassen? Und benötigt die EU ernsthaft keine Einflussbereiche, wie Heumann glaubt? Schon allein die tägliche Nachrichtenlage in der Peripherie Europas – bezogen auf die Flüchtlingssituation oder auf die Abhängigkeiten bei alten wie bei neuen Energien – lässt hieran Zweifel aufkommen. Und nicht zuletzt: Kann die EU wirklich die Glaubwürdigkeit besitzen, andere große Mächte von der Versuchung der Dominanz abzuhalten, wie Heumann annimmt, wenn sie sich von Krise zu Krise immer wieder aufs Neue als Ansammlung von Staaten entblößt, die besonders dann heftig untereinander streiten, wenn eigentlich ein starkes Miteinander gefordert wäre?

Hans-Peter Bartels: Deutschland und das Europa der Verteidigung. Globale Mitverantwortung erfordert das Ende militärischer Kleinstaaterei. J. H. W. Dietz Nachf. Verlag, Bonn 2019. 132 S., 14,90 €

Hans-Dieter Heumann: Strategische Diplomatie. Europas Chance in der multipolaren Welt. Geleitwort von Herfried Münkler. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2020. 249 S., 34,90 €

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