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Weil ihr Koffer in Paris blieb, würdigt Claire Denis (li.) Juliette Binoche in eleganter Motorradkluft.

© dpa/Pedersen

Europäischer Filmpreis 2019: Menschheitsgeschichten

„The Favourite“ von Giorgos Lanthimos dominiert die Gala zum Europäischen Filmpreis im Haus der Berliner Festspiele. Es war ein besonderes Kinojahr.

Von Andreas Busche

Werner Herzog hat in seiner Karriere einiges erlebt. Er hat legendäre Schlachten mit Klaus Kinski ausgefochten, musste nach einer verlorenen Wette seinen Schuh essen und wurde während eines Interviews von einer verirrten Kugel erwischt – er führte das Gespräch unbeeindruckt zu Ende. Kein Wunder, dass Wim Wenders sich am Samstagabend im Haus der Berliner Festspiele daran erinnert, welche Ehrfurcht er bei seiner ersten Begegnung empfunden hat. Herzogs Kino ist eine Sache von Leben und Tod. Für dieses Lebenswerk zeichnet ihn die Europäische Filmakademie aus. Aber wie.

Die schaurig-schiefe Arie, vorgetragen in einem Bötchen – in Reverenz an die legendäre Flussdampferszene aus Herzogs „Fitzcarraldo“ über die Bühne gezogen – wird als Höhepunkt in die 32-jährige Geschichte des Europäischen Filmpreises eingehen. Getextet und inszeniert wurde die Einlage von Dietrich Brüggemann, der die künstlerische Leitung dieses an absurden Momenten wahrlich nicht armen Abends verantwortet.

Es ist ein großer Quatschmoment – und ein willkommener Kontrast zu den beschwörenden Mahnungen an den europäischen Geist, die bei der Verleihung des Filmpreises in den vergangenen Jahren oft überwogen. Dazu passt, dass Herzog, der in der Welt Zuhause ist, sich in seiner prägnanten Dankesrede als bayerischen Filmemacher bezeichnet. Und Europa das größte „Friedensprojekt der Menschheitsgeschichte“ nennt.

So sieht das europäische Kino 2019 also aus: Ein britisches Königinnendrama als Seifenoper, unter der Regie eines Griechen, dessen politischer Subtext auch einiges über das derzeitige Verhältnis Englands zu Europa verrät („The Favourite“). Eine lesbische Liebesgeschichte im 18. Jahrhundert, deren feine Sinnlichkeit und untrüglicher weiblicher Blick alle Versprechen an ein diverses, genderparitätisches Kinos einlöst („Porträt einer jungen Frau in Flammen“). Ein Polizeidrama in der Pariser Banlieue, gedreht von einem jungen Afrofranzosen, das das brisante soziale Gewebe in der französischen Gesellschaft sehr differenziert abbildet („Die Wütenden“).

Und das filmische Tagebuch einer jungen Syrerin, die für ihr neugeborenes Baby den Alltag im belagerten Aleppo dokumentiert („For Sama“). Und irgendwann steht dann ein sprachloser, freier Oleg Senzow auf der Bühne, der einfach nur dafür gefeiert wird, dass er vier Jahre in russischen Gefängnissen überlebt hat. Ja, es war ein sehr gutes europäisches Kinojahr.

Mitgliederbefragungen tendieren zu Konsensentscheidungen

Vielleicht ist es gerade daher ein wenig ernüchternd, dass Giorgos Lanthimos’ „The Favourite“ mit insgesamt acht Auszeichnungen (unter anderem bester Film, beste Komödie, beste Regie, beste Darstellerin, beste Kamera) der große Gewinner des Abends ist. Die Preisflut täuscht über die Vielfalt des europäischen Kinos hinweg, wenn auch der Erfolg für Lanthimos hochverdient ist.

Bei den Oscars war sein Film trotz Rekordnominierung noch übergangen worden. Pedro Almodóvars autobiografisches Spätmeisterwerk „Leid und Herrlichkeit“ musste sich hingegen mit zwei Preisen, für Hauptdarsteller Antonio Banderas und Setdesigner Antxon Gómez, begnügen. Céline Sciamma erhielt wie schon in Cannes für „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ den Drehbuchpreis.

Mitgliederbefragungen tendieren eben zu Konsensentscheidungen, sie sind selten salomonisch. Das fällt besonders in einem Jahr auf, in dem die Herzen einem Film zufliegen, der eigentlich schon zu groß für das europäische Netzwerk ist. Die strahlenden Namen, die dieser Filmpreis bräuchte, fehlen dann häufig.

Dazu gehören in Berlin auch Preisträgerinnen: Lanthimos dreht schon wieder, sein Star Olivia Colman verbringt ihre Drehpause lieber mit den Kindern, Antonio Banderas war via Skype zugeschaltet. Dem Trio Céline Sciamma mit ihren Darstellerinnen Adèle Haenel und Noémie Merlant machten wiederum die französischen Streiks einen Strich durch die Rechnung.

Der Abend ist eine phänomenale Frauengala

Dass Roman Polanski, dessen Dreyfus- Drama „Intrige“ vor der Akademie ebenfalls abblitzte, die Einladung nach Berlin nicht annahm, war dem friedlichen Verlauf des Abends wohl eher zuträglich. Der Akademie-Vorsitzende Mike Downey kündigte in seinem Grußwort an, man werde zukünftig bei laufenden Verfahren wegen Missbrauchsvorwürfen auch „disziplinarische Maßnahmen“ ergreifen. Der Satz war wahlweise als Entschuldigung für die umstrittene Nominierung oder als Warnung zu verstehen. Die Academy in Hollywood hat Polanski bereits 2018 ausgeschlossen.

Am Ende ist die Verleihung vor allem eine phänomenale Frauengala. Die elfjährige Helena Zengel, für „Systemsprenger“ nominiert, ist der heimliche Star des Abends. Und als schließlich Claire Denis ihre sehr persönliche Lobeshymne auf Juliette Binoche spricht, die für ihren Beitrag zum Weltkino geehrt wird (sie dankt zuerst ihrem Kindermädchen), findet der Abend auch sein emotionales Zentrum.

Ganz nebenbei wird da auch die Frage nach der Definition des europäischen Kinos geklärt, von keinem geringeren als Jafar Panahi. Der iranische Filmemacher erinnert sich in einer Videobotschaft an ein Erlebnis mit Juliette Binoche, das ihm die Augen für das Kino geöffnet habe. Es kennt keine Grenzen.

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