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Kommt mir bloß nicht so. Helena Zengel spielt die neunjährige Benni, die jeden Erzieher zur Weißglut treibt.

© Foto: Yunus Roy Imer/Port au Prince Pictures

Europäischer Filmpreis 2019: Lava im Bauch

Sie ist erst elf und schon für den Europäischen Filmpreis nominiert: Eine Begegnung mit Helena Zengel, der Heldin des Dramas „Systemsprenger“.

Blümchenkleid, Lederstiefel, roter Wollschal, prüfender Blick. Helena Zengel sieht aus wie elfjährige Mädchen eben aussehen. Nur, dass sie normalerweise nicht als beste Darstellerin für den Europäischen Filmpreis nominiert sind. Der wird an diesem Sonnabend verliehen. Anders als Konkurrentinnen wie Olivia Coleman aus Großbritannien oder Tryne Dyrholm aus Dänemark, hat Helena Zengel eine kurze Anreise zur Gala im Haus der Berliner Festspiele. Sie ist sowieso in Berlin zu Hause, 2008 hier geboren. In die illustre Kandidatinnenrunde hat sie sich mit der Hauptrolle in Nora Fingscheidts Drama „Systemsprenger“ gespielt. Als einziges Kind unter gestandenen Frauen.

Die Geschichte der gewalttätigen neunjährigen Benni, an deren Wut und Verzweiflung alle Erziehungsinstanzen scheitern, hat seit der Prämierung mit dem Silbernen Bären der diesjährigen Berlinale einen Siegeszug sondergleichen hingelegt. „Systemsprenger“ ist in der Kategorie „bester Film“ ebenfalls für den Europäischen Filmpreis nominiert und geht für Deutschland bei der Oscar-Verleihung als „bester internationaler Film“ ins Rennen. Auch in der Publikumsgunst hält er sich wacker. Trotz des spröden Stoffs wollten eine gute halbe Million Kinogeher Helena Zengel als Benni sehen.

Nur folgerichtig, dass das in Rosarottönen leuchtende Plakat einen Ehrenplatz bei ihrem Friedrichshainer Filmverleih hat. Was Helena Zengel fühlt, wenn sie es sieht? „Ich bin stolz“, sagt sie schlicht. Pink ist die Filmfarbe, die Bennis alle Regeln auslöschenden Zorn symbolisiert und wie eine Welle die Leinwand überschwemmt. Toben, spucken, prügeln, brüllen. Benni hat Lava im Bauch. Und ist dabei als von der Mutter verlassenes Kind sehr verletzlich. Ein Spagat, den Helena Zengel staunenswert sicher hinbekommt. Ihr intensiver Blick aus wasserblauen Augen hat zwei Jahre zuvor schon fürchten und lieben gelehrt. In Mascha Schilinskis Eifersuchtsdrama „Die Tochter“, das ebenfalls auf der Berlinale uraufgeführt wurde. Da spielt sie in der Hauptrolle der kleinen Luca Vater und Mutter gegeneinander aus. Und ist – so wie Benni – böse und lieb zugleich.

So sieht das jedenfalls Helena, die inzwischen in Begleitung ihrer Mutter Anne Zengel auf dem Sofa sitzt und mit den Knien wippt. Sitzen ist nicht so ihrs. Sie braucht Bewegung, ist gerne draußen am Stadtrand bei ihrem Pferd. Logisch, dass sie im Kino gerne Pferdemädchenfilme wie „Bibi und Tina“, „Wendy“ und „Ostwind“ sieht. Mit vier Jahren hat Helena das erste Mal in einer Fernsehproduktion vor der Kamera gestanden. Ihre Darstellungslust ist einer Freundin ihrer Mutter aufgefallen, die eine Schauspielagentur für Kinder führt. „Ich war schon immer emotional und wild, habe aber nie an Schauspiel gedacht“, sagt Helena. Doch vor der Kamera fühlte sie sich sofort wohl. Warum? „Ich stehe gern im Mittelpunkt“, ist die entwaffnende Antwort. Und wenn dann der Regieruf „Und bitte“ oder „Action“ ertöne, sei sie plötzlich in einer ganz anderen Welt.

Zum Beispiel im Santa Fe des 19. Jahrhunderts. Im August hat Helena an der Seite von Tom Hanks in New Mexico gedreht. „News of the World“ heißt die Romanverfilmung, für die Regisseur Paul Greengrass sie angeheuert hat, nachdem er sie in „Systemsprenger“ sah.

Viel darüber erzählen darf Helena nicht. Nur so viel, dass sie für die Rolle der Johanna Leonberger, die im Jahr 1870 von Ureinwohnern entführt wird, außer Englisch auch Westernreiten und die Sprache der Kiowas gelernt hat. Johanna sei eigenwillig und selbstbewusst, sagt Helena. „Sie weiß, welchen Weg sie gehen will und macht’s genauso.“

Zum ersten Mal habe sie vor vier Kameras zugleich gespielt, erzählt Helena mit glänzenden Augen. „Da konnte ich noch mehr Emotionen zeigen.“ Eingeschüchtert habe sie weder das Riesenset einer US-Produktion noch das Land selber. „Es ist ziemlich anders als in Deutschland. Die sind immer allerbester Stimmung. Kaum kommt man rein, ist schon wieder alles ,awesome‘. Du wirst auf Händen getragen und kriegst sofort alles, was du brauchst.“ Für sie als Schülerin der sechsten Klasse bedeutete das: Einzelunterricht.

Zurück an ihrer Berliner Schule, löchern sie die Mitschülerinnen dann, wie es beim Film zugeht. „Die sind neugierig und freuen sich für mich.“ Auch heute liegt schon ein langer Schultag hinter ihr. Und dann noch am späten Nachmittag Interviews geben? Da antwortet sie so diplomatisch wie ein Profi. „Ich rede ja über das, was ich gern mache. Schauspiel ist meine Leidenschaft.“ Außerdem sei sie nach der Zeit in den USA ziemlich weit im Schulstoff. „Nur Mathe und Nawi, also Naturwissenschaften, fallen mir etwas schwerer.“ Dann sollte es wohl klappen mit dem Sprung aufs Gymnasium.

Darum, dass Helena die anspruchsvollen Rollen wie den Trubel drum herum meistert, kümmert sich ihre Mutter, die sie stets begleitet. „Das ist unser Deal, ich nehme mir die Zeit“, sagt Anne Zengel. Und ihre Tochter nickt. Den Part der aggressiven Benni haben sie mit Regisseurin Nora Fingscheidt schon ein halbes Jahr vor Drehbeginn vorbereitet. Viel geredet, andere Schauspieler kennengelernt, Drehbuch gelesen, geprobt. „Mama und Nora haben sich jeden Tag vergewissert, dass ich den Unterschied zwischen Spiel und Wirklichkeit verstehe und nichts von Benni mit in den Alltag nehme“, sagt Helena. Tagebuch- Schreiben und die sogenannte Regiedusche haben auch dabei geholfen. So hieß die abendliche Trennungsübung nach dem Motto „eben warst du noch Benni, jetzt bist du wieder Helena“, erklärt Anne Zengel. Ohne solche Beschwörungen übersteht selbst ein robustes Wesen wie Helena die krassen Ausraster der Figur nicht.

Auf die Frage, ob es Regisseurinnen oder Regisseure gibt, mit denen sie unbedingt mal drehen möchte, hat die Newcomerin eine erstaunliche Antwort parat: „Mit Lady Gaga!“ Die sei ja eigentlich Sängerin und nicht so sehr Schauspielerin, findet Helena. Und Fan ihrer Musik ist sie eigentlich auch nicht. „Aber ich fand ,A Star is Born‘ sehr schön, da hat sie toll gespielt. Und diese emotionale Seite von ihr kannte ich vorher nicht.“ Gefühle ausdrücken ist das, was Helena Zengel an der Schauspielerei am meisten schätzt. Und dass man dabei keine Fehler machen kann. „Die Art eines Menschen kann ja nie falsch sein, die ist einfach anders.“

Auf die Preisverleihung freut sie sich. „Natürlich habe ich etwas Hoffnung. Wenn ich gewinne, wäre das, als ob ein Asteroid in die Erde einschlägt. Unvorstellbar!“ Wenn nicht, macht sie einfach weiter. Mit der Schule und der Schauspielerei. Und vielleicht auch mit Schauspielunterricht? Helena schüttelt energisch den Kopf: „Ich will so natürlich bleiben wie ich bin.“ Genau deswegen habe Paul Greengrass sie für seinen Film ausgewählt, erzählt Anne Zengel. Er mochte Helenas Energie, ihre Direktheit. Dieses unbedingte Jetzt, das in ihren harten zarten Zügen liegt.

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