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Unterwegs in den Untergang. Odysseus und seine Gefährten in einer Mosaikszene im Bardo Museum von Tunis.

© mauritius images

Europäische Hochkultur entstand aus Flüchtlingsdrama: Odysseus, der erste Refugee

Tausende Menschen sterben im Mittelmeer. Ihr Drama erinnert an die Irrfahrten des Odysseus. Er war vor 3300 Jahren der allererste Bootsflüchtling. Von seinen zwölf Schiffen erreichte nur eines das Ziel.

Von den Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertrinken, kennt die Welt nicht einmal die Namen. Nicht fest steht auch, wie viele in den letzten Wochen überhaupt gestorben sind. Seit Jahresbeginn sollen allein auf der Überfahrt nach Italien mehr als 1700 Menschen umgekommen sein. Das Meer nimmt ihre Leichen auf und deckt sie mit Wasser zu. Es gibt kein Grab des unbekannten Bootsflüchtlings und auch kein Denkmal. Vom Ablegen von Trauerkränzen muss abgeraten werden. Das Mittelmeer ist zum Totenmeer geworden.

Der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi will nun das Boot, das am 18. April mit hunderten Menschen an Bord kenterte und sank, vom Meeresgrund heben lassen. Die Leichen möchte er ebenfalls bergen. Als Mahnung und zur Abschreckung. „Die ganze Welt soll sehen, was geschehen ist“, sagt Renzi. In Brüssel haben in dieser Woche die europäischen Außen- und Verteidigungsminister eine militärische Mission gegen die Schlepper beschlossen. Die Schleuserboote sollen aufgebracht, unbrauchbar gemacht, vielleicht auch versenkt werden.

Auch der allererste Bootsflüchtling, der das Mittelmeer durchquerte, hatte keinen Namen. Keinen richtigen Namen, bloß einen nichtigen. Jedenfalls nach eigener Darstellung. „Outis“ heiße er, beteuerte der Mann, zu Deutsch: Niemand. „Niemand hat dich geblendet. Niemand hat versucht, dich zu ermorden“, versicherte er dem Zyklopen Polyphem, den er zu ermorden versucht und einen glühenden Pfahl in sein einziges Auge gerammt hatte, um ihn zu blenden.

Der sagenhafte Odysseus und seine Begleiter kamen aus einem Krieg

Odysseus, so heißt unser Held in Wirklichkeit, war der perfekte Partisan. Bereits zwischen 1330 und 1140 v. Chr., wie die antiken Autoren seine Abenteuer datieren, beherrschte er die Vietcong-Taktik, einen Gegner mit dessen eigenen Waffen zu schlagen. Polyphem wird als monströs und kräftig, geistig aber eher unterbemittelt beschrieben. Er glaube – heißt es – alles, was man ihm sage. Deshalb ist Odysseus’ Einfall, die Schuld auf einen anderen abzuwälzen, so genial. Den Klauen des Menschenfressers entkommen Odysseus und seine Gefährten, indem sie auf dessen Einfalt vertrauen. Einen Feind zu verfolgen, der ein Niemand ist, ähnelt dem Versuch, einen Ozean durch ein Nudelsieb zu schütten.

Der sagenhafte Odysseus und seine Begleiter kamen aus einem Krieg. Grausamste Kämpfe lagen hinter ihnen, zehn Jahre Gewalt hatten sie abstumpfen lassen. Heute würde man sagen, sie seien traumatisiert. Die Krieger hatten Troja dank einer von Odysseus ersonnenen List, des Trojanischen Pferdes, erobert und anschließend verwüstet. Das Meer sollte ihre Zuflucht sein, eine Brücke hinüber in eine bessere, friedlichere Welt. Aber Erlösung fanden sie keine auf dem Wasser.

„Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes / Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung / Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat / Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet / Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft / Aber die Freunde rettet’ er nicht, wie eifrig er strebte / Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben“, heißt es in den Eingangsversen der „Odyssee“. Odysseus und seine Leute können nicht auf die Kenntnisse eines Schleusers zurückgreifen, mit ihrer Einschiffung beginnt eine große, nicht enden wollende Irrfahrt.

Ithaka ist ähnlich groß wie Lampedusa

Einst, so behauptet der Mythos, waren die Griechen mit tausend Schiffen nach Troja aufgebrochen, das im Nordwesten der heutigen Türkei vermutet wird. Nach Trojas Zerstörung reichten zwölf Boote, um die Überlebenden aufzunehmen. Ihr Ziel war Ithaka westlich von Griechenland. Eine Insel im Mittelmeer, ähnlich groß wie Lampedusa. Nur auf dem Schiffsweg lässt sich der Not entkommen, eine Erfahrung, die später auch die Römer machen: „Navigare necesse est.“ Seefahrt ist nötig, Leben ist nicht nötig. So wird bloß einer die „Zurückkunft“ in der alten, fremd gewordenen Heimat erleben: Odysseus. Alle seine namenlosen Gefährten sterben. Die Reisenden sind antike boat people, ihre Fahrt führt nicht geradewegs von A nach B, sondern in sprunghaftem Zickzack. Nicht voranzukommen ist eine Erfahrung, die Enthusiasmus verlangt.

Deshalb feuert Odysseus seine Leute an: „Also sprach ich, und trat ins Schiff, und befahl den Gefährten, /Einzusteigen, und schnell die Seile vom Ufer zu lösen. / Und sie traten ins Schiff, und setzten sich hin auf die Bänke.“ Die Fahrten des Odysseus ähneln den Erlebnissen heutiger Asylbewerber. Die Männer werden sieben Jahre lang auf einer Insel namens Ogygia festgehalten. Als sie auf einem selbst gebauten Floß fliehen, geht es in einem Sturm unter. Kalypso, eine Nymphe „mit schönwallenden Locken“ (Homer), spielt auch eine Rolle. Später verlieren sie elf ihrer zwölf Schiffe auf einen Schlag, beinahe lassen sie sich von überlauter Musik vom Kurs abbringen. Den Sirenengesang muss man sich wie Störgeräusche eines falsch eingestellten Autoradios vorstellen.

Die europäische Hochkultur ist aus einem Flüchtlingsdrama entstanden

Homer hat das Heldentum überhaupt erst erfunden. Der Autor der „Ilias“ und der „Odyssee“ prägte den Begriff „Heros“ für König Agamemnon, den Oberbefehlshaber der Griechen im Krieg gegen Troja. Odysseus hingegen ist ein großer Erdulder, ein Weitermacher und Niemalsaufgeber, den erst Schmerz und Leid zum Helden machen. Als er am Ende, nach zehn Jahren Krieg und zehn Jahren Irrfahrt, heimkehrt nach Ithaka, wird er nur noch von seinem Hund erkannt. Odysseus hat sich in einen Anderen verwandelt. In einen Niemand. Die europäische Hochkultur, so viel steht fest, ist aus einem Flüchtlingsdrama mit vielen Toten entstanden.

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