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Jaroslav Rudis, 44, lebt in Böhmen und Berlin. Sein jüngster Roman "Nationalstraße" ist bei Luchterhand erschienen.

© Jan Rasch

Europa - mein scHmERZ: Warten am Bahnübergang

Zwei alte Freunde reden in einer Prager Kneipe über die unerwiderte Liebe, Bahnübergänge und Europa. Ein Text des tschechischen Schriftstellers Jaroslav Rudis.

Es ist kurz vor Weihnachten, wir sitzen in der Kneipe „Zum ausgeschossenen Auge“ in Prag und trinken Bier. „Hast du dich schon mal getrennt, bevor du mit jemanden zusammen warst?“, fragt Max, der das erste Glas immer in einem Zug leert. So groß ist sein Durst. Oder seine Trauer. Oder beides. „Nein“, sage ich. Der Fingerlose kommt an unserem Tisch vorbei. Seine drei Finger hat er an jenem Abend verloren, als er im Keller betrunken ein Bierfass hochheben wollte. Er setzt sich zu uns.

„Ist mir gerade passiert. Julie, du weißt schon,die Wirtschaftsfrau...Wir waren öfters hier, plauderten über Kino, Bücher, Theater. Sie sagte, sie hätte nie gedacht, wie toll eine Freundschaft zwischen Mann und Frau sein kann. Ich dachte, das ist schön, sie kam mit mir nach Hause, ich passte aber auf, ich machte keinen Druck, ich wollte es nicht kaputt machen. Ja, ich verliebte mich ein bisschen, sie verliebte sich aber auch, so fühlte es sich an. Dann flog sie für zwei Wochen nach Spanien. Sie schrieb mir jeden Tag, wie sehr sie sich darauf freut, dass wir wieder Bier trinken gehen. Als sie zurückkam, sagte sie, ist das nicht toll, ich habe mich in Spanien verliebt, in einen deutschen Ingenieur von unserem Projekt, was sagst du dazu?“

Was wir noch alles erleben werden

„Und was hast du gesagt?“, fragt der Fingerlose. „Dass ich mich freue für sie. Jetzt will sie ihn heiraten und am 1. Januar zieht Julie nach Köln.“ „Sage ich doch, die EU ist Scheiße,“ meint der Fingerlose. „Wären wir nicht in der EU, wäre deine Alte nicht nach Spanien geflogen und würde jetzt nicht nach Deutschland ziehen. Sie würde mit dir fünf Kinder haben und abends warten, bis du aus der Kneipe heimkommst.“ „Sie ist nicht meine Alte“, sagt Max. „Deine mögliche Alte“, sagt der Fingerlose. Stille. Kurz denke ich, Max haut dem Fingerlosen jetzt eine rein und er ist auch noch ein paar Zähne los. Doch Max prügelt sich nicht, er schaut ihn nur traurig an. Der Fingerlose steht auf. „Welche Frau will mit mir tanzen?!“, schreit er. Aber es will keine mit ihm tanzen und er setzt sich an einen anderen Tisch.

„Das war’s dann mit mir und Julie“, sagt Max und nimmt einen tiefen Schluck. „Ich bin gern allein. Jetzt habe ich die Bahnübergänge in Schweden entdeckt.“ „Was?“ „Auf YouTube. In Schweden sind die Bahnübergänge anders als in Norwegen, in Finnland haben sie wieder was von denen in Schweden. Interessant, oder? Jetzt schaue ich mir die Bahnübergänge in Spanien an. Und in Deutschland. Bahnübergänge, darum geht es in der Welt. Dann lacht er und ich lache auch. Max zählt nach, wie viele Biere wir hier in den letzten zwanzig Jahren schon zusammen getrunken haben. Tausend? Dreitausend? Fünftausend? Nicht mal unser Freund Einstein, der eine Zeit lang in der Kneipe gewohnt hat, früher wirklich Atomphysiker war und gerade das nächste Opfer des Fingerlosen ist.

Max erinnert sich, wie oft wir uns hier gestritten haben. Über Politik. Geschichte. Wissenschaft. Kunst. Weltprobleme. Wie oft wir uns wieder versöhnten. Wie oft wir dem Fingerlosen eine reinhauen wollten. Was wir in dieser Kneipe schon alles erlebt haben. Die tolle wilde Zeit nach der Wende. Wirtschaftskrisen. Beziehungskrisen. Den EU-Beitritt von Tschechien. Den Tod von Václav Havel, der uns traurig machte. Die Wahl des Populisten Miloš Zeman, die uns wütend machte. Brexit. Die Wahl von Trump. Was wir noch alles erleben werden.

Einstein liest die Zeitung von gestern

„Die Geschichte rast an uns vorbei, wie die Schnellzüge an den Bahnübergängen in Norwegen oder Schweden. Wir Tschechen rasen nicht. Wir warten, wie die Autos vor dem Schlagbaum. Die Zugfolge ist aber so dicht, dass wir für immer warten müssen. Wir ertränken uns im Bier und warten, was passiert“, sagt Max. „Die Frage ist, ob das ewige Warten gut ist oder schlecht.“ Wir schweigen eine Weile und schauen uns die Fische im Aquarium unter der Theke an. Die Fische schauen uns auch an und schweigen ebenfalls. „Wir sind die Fische“, sagt Max. Die Kneipe, die noch vor einer Stunde voll und laut war, ist jetzt leer. An einem Tisch sitzt Einstein und liest die Zeitung von gestern. An einem anderen Tisch sitzt der Fingerlose und schläft mit dem Kopf im Nacken. Wie ein Astronom, der sich die Sterne am Nachthimmel anschaut. Er schnarcht.

„Jaroslav, warst du mal in Köln?“, fragt Max. – „Ja.“ – „Wie ist das Bier dort?“ – „Die nennen es Kölsch.“– „Kölsch?“– „Das würde dir nicht schmecken.“ „Gut. Vielleicht wird Julie unser Bier vermissen, wenn sie mich nicht vermisst. Vielleicht kommt sie dann zurück.“

Jaroslav Rudis

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