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Das ewige Ringen zwischen Demokratie und Populismus kannten auch schon die alten Griechen.

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Europa-Krise: Brüderlichkeit und Eigensinn

Die Zeitschrift Akzente präsentiert ein „Europa“-Sonderheft über die Krise des alten Kontinents. Und das Online-Magazin „Versopolis“ zeigt: Auch Schriftsteller können dem Zerfall entgegenwirken.

Von Gregor Dotzauer

Für den alten Europäer Stefan Zweig stand schon ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg fest: „Wir erleben jetzt und in nächster Zukunft den Entscheidungskampf zwischen einem geeinten, brüderlichen Europa und einem Europa eigensinniger Nationen.“ Für seinen Landsmann, den glühenden neuen Europäer Robert Menasse, der ihn im Editorial eines „Europa“-Sonderhefts der „Akzente“ zitiert (3/16, 140 S., 16 €), gilt das noch immer. Nur die Vorzeichen lauten anders. In einem zusammen mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot verfassten „Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik“ heißt es: „Kein europäischer Nationalstaat kann heute mehr ein Problem alleine lösen, während das institutionelle Gefüge der EU, vor allem die Macht des Rats, gemeinschaftliche Lösungen behindert. Was wir heute Krise nennen, ist dieser Widerspruch, und was wir diskutieren, sind nur dessen Symptome.“

Wo sie in die Schlagzeilen geraten, zeigen sie sich in ihrer ganzen Hässlichkeit. Vor der ostdeutschen Haustür. In Viktor Orbáns ungarischem Autokratentum. In den xenophoben Anwandlungen der slowakischen Regierung, die von Präsident Andrej Kiska mühsam abgefedert werden. In Polens Nationalismus, den Adam Zagajewski in den „Akzenten“ als „Die Schließung einer offenen Gesellschaft“ beschreibt. In Erdogans reislamisierter Türkei, die auch ohne EU-Mitgliedschaft in den europäischen Alltag hineinregiert. Und wo die Symptome in den Nachrichten kaum eine Rolle spielen, etwa in Bulgarien, das chauvinistische Kräfte wie in Ungarn von einem Referendum gegen die Aufnahme von Flüchtlingen träumen lässt, sieht es nicht besser aus. Dabei haben die unleugbaren Probleme der Massenmigration, die vor allem Grenzregionen überfordern, einem Gefühl oft erst den willkommenen Gegenstand geliefert.

In solchen Zeiten sind es auch Schriftsteller, die dem Zerfall entgegenwirken. Nicht weil sie politischen Einfluss besäßen, sondern weil sie an einem Zusammenhang stricken, der die Blickverengung aufhebt und sich im Idealfall auf Leser überträgt. Moralpredigten sind dafür gar nicht nötig. Auch durchaus eigennützige Interessen, wie sie das Online-Magazin „Versopolis“ (www.versopolis.com) mithilfe von EU-Geldern verfolgt, können hilfreich sein. Die vom Beletrina Verlag in Ljubljana aus redigierte „European Review of Poetry, Books and Culture“ ist Sloweniens ausgestreckte Hand in Richtung Resteuropa.

Die mit 13 europäischen Poesiefestivals assoziierte Plattform ist längst über die Präsentation von Lyrik hinausgewachsen. 1066 Gedichte von 98 Dichtern, jeweils in Original und englischer Übersetzung, sind dort momentan zu finden. Daneben gibt es Reportagen, Rezensionen, Interviews und Meinungsstücke wie Katja Perats Protest gegen die Versuchung, Slowenien nach dem Bild zu beurteilen, das seine von Jahr zu Jahr schöner werdende Tochter Melania Knavs, geehelichte Trump, entwirft.

Perat macht sich insbesondere über die von Monika Nalepa im Monkey-Cage-Blog der „Washington Post“ aufgestellte These lustig, dass Melanias weitgehend von Michelle Obama übernommene Rede auf dem Nominierungsparteitag ihres Gatten ein Effekt ihrer Erziehung in einem postkommunistischen Schulsystem sei: Dieses habe eine „culture of cheating“ hervorgebracht. Die in Polen geborene und in Chicago lehrende Politikwissenschaftlerin legte sogar mit Plagiatsstudien und Statistiken nach, wo wohl ein einfacher Dummdreistigkeitsdetektor ausgereicht hätte: Melania Trumps Rede war wohl kein Versehen, sie war volle Absicht. Immerhin wissen seitdem ein paar Amerikaner mehr, wo Slowenien liegt.

Ein Glanzlicht von „Versopolis“ sind Noah Charneys an Prousts Fragebogen ausgerichtete Schriftstellergespräche. Unter dem Titel „The Confession Book – Interviews with Great Authors on How They Write“ liegt eine Auswahl als kostenloses E-Book vor: Tiefer und unterhaltsamer kann man sich mit den Routinen und Obsessionen von Stephen Greenblatt, Vlada Uroševic, Maya Angelou oder Oliver Sacks nicht auseinandersetzen.

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