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Eugen Ruge über Familienromane: „Es gibt nur die persönliche Wahrheit“

Vor dem Deutschen Buchpreis: Ein Gespräch mit Eugen Ruge über Familienromane, die DDR und die Last der Erinnerung

Herr Ruge, herrscht in der Literatur gerade ein verstärktes Interesse an der DDR? Ihr DDR-Familienroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ und Angelika Klüssendorfs Geschichte über ein Mädchen in der DDR stehen auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2011. Überhaupt hat man den Eindruck, als sei die DDR ein unerschöpfliches Reservoir.

Dieses Interesse gibt es, aber es werden auch weiterhin Bücher über den Faschismus oder das Mittelalter geschrieben, über die Vergangenheit halt. Alles Tatsächliche ist ja Vergangenheit. Zudem können Sie sich als Schriftsteller nicht aussuchen, worüber Sie schreiben. Diesen Stoff habe ich seit Jahren mit mir herumgeschleppt.

1997 haben Sie ein Theaterstück mit dem Titel „Babelsberger Elegie“ geschrieben, in dem der Altkommunist Wilhelm Bormann dreimal Geburtstag feiert, 1989, 1990 und 1991. Das erinnert an die Geburtstagsfeier am 1. Oktober 1989 für den Wilhelm in Ihrem Roman.

Ich habe über diesen Roman seit der Wende nachgedacht. Davor erschien mir alles, was mit der DDR zusammenhing, langweilig und grau. Ich habe einige Anläufe unternommen, den Stoff zu bannen, aber für ein Theaterstück war die Geschichte als Ganzes zu groß. Das Stück wurde aufgeführt, aber es hatte natürlich nicht die Dimension des Romans. Auch fehlte mir damals noch die Distanz, auch im Hinblick auf meine Figuren.

Ihr Vater, der Historiker Wolfgang Ruge, starb 2006. War sein Tod der letzte Anstoß?

Mag sein. Das – und eine Krankheitsdiagnose, die sich später als falsch erwies. Mehr denn je wurde mir bewusst, dass ich es mir nicht verzeihen würde, nicht wenigstens versucht zu haben, über meine Familie zu schreiben. Ich hatte über ein Jahr den Nachlass meines Vaters gesichtet, mir gingen lauter Gegenstände durch die Hand, mit denen Erinnerungen verbunden waren. Nach dem Tod meines Vaters war es für mich leichter geworden, mit meinen Figuren, mit meiner Familie umzugehen. Gleichzeitig fühlte ich mich freier, Dinge hinzuzuerfinden.

Warum haben Sie kein Sachbuch verfasst?

Ein Sachbuch wäre viermal so lang geworden. In der Prosa habe ich die Chance zu stärkerer Verdichtung. Mein Roman umfasst einen Zeitraum von 50 Jahren auf 430 Seiten. Außerdem leben wir in Zeiten – auch in der DDR war das irgendwann so –, in denen im persönlichen Leben des Einzelnen meist weniger Großes passiert als beispielsweise in der Zeit, die mein Vater im Gulag in der Sowjetunion verbracht hat. Er hat einen Bericht geschrieben, in dem er seine Erfahrungen schildert ...

... und den Sie nach einer ersten Veröffentlichung 2003 noch einmal neu herausgeben.

Als Sachbuch, was mir sinnvoll erscheint. Mein Vater hatte versucht, über sein Leben in der DDR nach seiner Rückkehr 1956 zu schreiben und über die Zeit nach der Wende. Das gelang ihm nicht, er hat alles vernichtet, das funktionierte als Bericht nicht. Für dramatische Lebensabschnitte wie Arbeitslager und Verbannung ist der Bericht die richtige Form. Um das Leben in weniger dramatischen Epochen zu schildern, bedarf es jedoch der Erfindung, der Kunst eines Schriftstellers, auch wenn das ein großes Wort ist.

In Ihrem Roman kommen die großen Umwälzungen – die Gründung der DDR, der Mauerbau, die Wende – nur am Rand vor.

Ja, man will doch nicht zum hundertsten Mal die Geschichte von Mauerbau oder Mauerfall erzählt bekommen! Man kennt die Bilder, sie sind ins gesellschaftliche Bewusstsein eingegangen. Damit habe ich gearbeitet. Ich lasse Lücken, die der Leser dann automatisch ausfüllt. So schreibt er im Kopf am Buch mit. Das spart auch Papier, das in der DDR immer knapp war. Zum anderen ging es mir nicht um die großen Ereignisse. Ich wollte kein vollständiges und objektives Geschichtsbild zeichnen, das es übrigens auch so kaum gibt. Es gibt nur die persönlichen, selektiven Wahrheiten und die Erinnerungen von Einzelnen. Eigentlich gibt es nicht mal Erinnerungen. Die Erinnerungen werden jedes Mal wieder neu zusammengesetzt, nach Plausibilitätskriterien. Deshalb habe ich meine Geschichte aus vielen Perspektiven erzählt: Der Stalinist Wilhelm kommt zu Wort, der Republikflüchtling Alexander, die russische Babuschka, der Intellektuelle.

Warum endet der Roman kurz nach den Anschlägen auf das World Trade Center?

Der Roman beschreibt eine Zeit, die ich die Nachkriegsepoche nennen würde. Die endete zwischen 1989 und 2001. Der 11.9. ist der definitive Abschluss dieser Epoche und der Beginn einer neuen.

Wechseln Sie deshalb im letzten Kapitel des Buches ins Futur?

Das ist einer von vielen Gründen. Dieses Kapitel weist über den Zeitrahmen des Romans. Im Futur hebt sich der Blick, es öffnet das Ganze, hält es in der Schwebe.

Es gibt auch Kritikervorhaltungen, Sie würden es mit Ihrer realistischen Erzählweise dem Leser zu einfach machen.

Mir ist nur ein Kritiker bekannt, der meint, dass ich traditionell schreibe. Das halte ich für falsch. Ich wollte eine lesbare, ja unterhaltsame Geschichte schreiben. Es wäre sehr deutsch, einen solchen Roman deswegen gleich zu verdächtigen, weniger „literarisch“ zu sein. Für so einen Stoff braucht man eine starke Form, sehr viel Disziplin. Da kann man nicht schwatzen, sondern muss bei den Vorgängen bleiben. Man muss tun, was ein Erzähler zu tun hat: erzählen. Wissen Sie, mein erstes Prosamanuskript, das ich schrieb, nachdem ich meinen Beruf als Mathematiker aufgegeben hatte, war ein typisch postmodernes Gebilde: dauernd damit beschäftigt, sich selbst als literarisches Konstrukt zu entlarven. Ich habe die Differenz zwischen Erzählung und Wirklichkeit ständig zum Thema gemacht. Heute bin ich eher stolz darauf, dass der Leser den formalen Aufwand meines Romans gar nicht als solchen zur Kenntnis nimmt.

Warum sind Sie Mathematiker geworden?

Mein Vater wollte, dass ich etwas „Richtiges“ studiere, etwas Unideologisches, in das mir von Partei und Staat keiner reinquatschen konnte. Die Mathematik war ein ideologiefreier Raum.

Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?

Die Idee, Schriftsteller zu werden, kam mir früh. Einmal, als meine zwei Kindergärtnerinnen mich nach dem Beruf meines Vaters fragten, sagte ich: Der sitzt den ganzen Tag an der Schreibmaschine. Da riefen beide aus: Oh, er ist Schriftsteller! Nun, er war ja Historiker. Aber seitdem glaubte ich, dass ein Schriftsteller was Besonders sei. So war es damals. Heute ist Fernsehkoch was Besonderes.

Und Sie haben von heute auf morgen aufgehört mit der Mathematik, mit Ihrem Job im geophysikalischen Institut in Potsdam?

Das kann man so sagen. Es gab nur besagtes Manuskript und ein paar Lyrikübersetzungen. Bei der DEFA habe ich mich dann nach Rechercheaufträgen erkundigt, und es folgte bald mein erstes Theaterstück. Das wurde in Leipzig uraufgeführt, obwohl ich zwischenzeitlich in den Westen abgehauen war. Woran man ablesen kann, wie sich die Situation in der DDR 1988 darstellte.

Warum sind Sie gegangen?

Vor allem, weil ich sah, dass die DDR keine Zukunft mehr hatte. Ich ging davon aus, dass der Sozialismus allmählich versickern und in 20 oder 30 Jahren eine Art Konvergenz an den Kapitalismus erfolgen würde. Aber diese Jahre waren schließlich mein Leben! Da konnte ich gleich rübergehen. Ausgereist bin ich mit einem Besuchervisum für den 80. Geburtstag eines Onkels, der gar nicht mein Onkel war. So gut funktionierte die Stasi auch wieder nicht.

Wie ist Ihr Vater damit umgegangen?

Voller Verständnis, der hatte auch die Schnauze voll zum Schluss. Obwohl sich manche unserer Differenzen erst nach der Wende zeigten. In der Kritik an der DDR waren wir uns noch relativ einig. Meine Mutter hat mehr gelitten. Nicht aus politischen Gründen, sie fühlte sich von ihrem Sohn verlassen.

Was bedeutete für Sie der Mauerfall?

Das war zwiespältig. Ich war zwar erleichtert: Ich kann zurück, Freunde, Eltern wiedersehen, dieser Teil der Welt ist für mich nicht verloren. Gleichzeitig aber war ich verärgert. Jetzt kommen mir 16 Millionen DDR-Bürger hinterher! Mein Ärger war vollkommen irrational. Ich bin dann auch erst 1995 nach Berlin zurückgekehrt.

Die Zeit in der DDR kurz vor dem Mauerfall hat Uwe Tellkamp vor drei Jahren intensiv in seinem Familienroman beschrieben. Haben Sie den gelesen?

„Der Turm“ kam heraus, während ich mein Buch schrieb. Ich habe es erst gelesen, als ich fertig war. Ich befürchtete, es könnte mich beeinflussen, meine Erinnerungen überdecken. Diese Angst war unbegründet, weil es zwei völlig unterschiedliche Bücher sind. Mein Buch kommt sozusagen aus dem ideologischen Kerngebiet der DDR, seines vom bürgerlichen Rand. Meines umfasst ein halbes Jahrhundert, seins eine Dekade. Tellkamp bleibt in der DDR, meine Figuren geistern auch in Mexiko und Russland umher. Auch stilistisch unterscheiden wir uns sehr. Was uns verbindet, sind lediglich die Stichworte DDR und Familie.

Sind Sie erleichtert, Ihre Familiengeschichte hinter sich gebracht zu haben?

Ja, ich fühle mich von einer Last befreit, von einem Auftrag. Im Januar erscheinen die Russland-Erinnerungen meines Vaters. Damit habe ich die letzten Monate verbracht. Ich bin froh, das hinter mir zu haben. Seit dem Döblin-Preis 2009 habe ich ja praktisch unter Beobachtung geschrieben. Viele kannten den Text, die Erwartungen waren groß. Im Moment empfinde ich ein ausgesprochenes Bedürfnis nach Geheimhaltung und Rückzug.

Das Gespräch führte Gerrit Bartels.

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