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Tyrannen bei der Arbeit. Hitler und Himmel beobachten ein Flugmanöver. Auch ihre Kindheiten werden im Buch untersucht.

© picture alliance / dpa

Erziehung und Gewalt: Sind Diktatoren auch das Produkt einer traumatischen Kindheit?

Autor Sven Fuchs spürt im Buch „Die Kindheit ist politisch“ den Biografien vieler Gräueltäter nach. Er meint, es gibt deutliche Zusammenhänge zwischen frühen Erfahrungen und politischer Gewalt.

Von Caroline Fetscher

An ihre Kindheit können sich Erwachsene nur bruchstückhaft erinnern. Die Zeit scheint wie verschollen. Doch „das Vergessen von Eindrücken, Szenen, Erlebnissen reduziert sich zumeist auf eine ,Absperrung’ derselben“, führte Freud aus. Zur Kindheitsamnesie kommt es, weil viele frühe Erfahrungen für das Ich bedrohlich bis unerträglich sind. Doch was unbewusst bleibt, wird meist unbewusst wiederholt. „Jede Erziehungspraxis in der Geschichte wird im politischen Verhalten Erwachsener wieder aufgeführt“, erklärt der prominenteste Kindheitshistoriker Lloyd deMause.

Aus Freuds Erkenntnissen zum Kontinent der Psyche leiteten Zeitgenossen wie der Wiener Freud-Schüler Paul Federn oder der Berliner Pädagoge Siegfried Bernfeld Forderungen für den Umgang mit Kindern ab. In der 1926 gegründeten „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“ traten sie und andere entschieden für das Ende von Gewalt als Mittel der Erziehung ein, wie 1900 schon die Schwedin Ellen Key. Mit dem Zivilisationsbruch in der NS-Zeit zerbrach auch der begonnene Prozess der Zivilisierung der Kindheit. Erst im Jahr 2000 beschloss der Bundestag das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung. Dass dieses Recht weitaus mehr ist als eine großzügige Freundlichkeit gegenüber Minderjährigen, sondern eins der politisch bedeutendsten überhaupt, will das Buch „Die Kindheit ist politisch“ mit Macht dokumentieren (Sven Fuchs: Die Kindheit ist politisch. Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen. Mattes Verlag, Heidelberg, 2019. 406 S., 18,90 €).

Bei vielen Gräueltätern findet Fuchs Spuren traumatischer Kindheitserfahrungen

Inspiriert vor allem von DeMause setzt Fuchs dessen Argumente in die Gegenwart fort. Denn obwohl es eine kulturelle Evolution gibt, die Gewalt gegen Kinder zunehmend weltweit ächtet und Empathiearmut verringern hilft, wächst die Mehrheit aller Menschen weiterhin mit Gewaltpraktiken auf, gerade in traditionellen Gesellschaften. Weder für diese noch für vorindustrielle Epochen sind Idealisierungen angebracht. „Es gab kein Paradies!“ konstatiert Fuchs mit Emphase.

Gebraucht wird Aufklärung statt Verklärung. Fuchs, von Haus aus Industriekaufmann, der einige Semester Soziologie studierte, ist Faktenfreund und zieht auch die aktuelle Hirnforschung zu Rate, um die Folgen physischer und psychischer Gewalteinwirkung auf Kinder zu schildern. Stressüberflutung, die ein Kind nicht kontrollieren kann, hinterlässt klinisch nachweisbare Gedeihstörungen und psychische Anomalien wie extremen Narzissmus. Auf solche Befunde hin untersucht Fuchs Dutzende Biografien etwa von NS-Tätern, Tyrannen und Terroristen. Er unternimmt Tauchgänge in die Kindheiten von Napoleon und Bismarck, Hitler, Goering, Goebbels und Himmler, Stalin und Putin, aber auch von Horst Mahler, Andreas Baader oder Anders Breivik. Überall wird er fündig, zeigen sich Spuren erschütternder bis grausamer früher Erfahrungen - die umgekehrt bei sozialen Persönlichkeiten, etwa den Rettern jüdischer Verfolgter, eindrucksvoll fehlen.

In seinem Blog ist Sven Fuchs solchen Phänomenen seit Jahren auf der Spur. Vieles, was hier mithilfe älterer bis neuer Biografien seiner Probanden ans Licht geholt wird, leuchtet ein, ebenso das Widerlegen des üblichen Einspruchs, nach dem keineswegs aus jedem Misshandelten ein Misshandler werde. Es bricht sich auch nicht jeder bei einem Treppensturz die Knochen. Doch bleibt nicht die Häufigkeit auffällig, mit der das passiert?

Fuchs stellt ein Riesenorchester auf, um Erkenntnissen aus der Schule von Lloyd deMause Klang zu verschaffen, und das zu Recht. Denn der Zusammenhang zwischen Kindheitsleid und Destruktivität im Erwachsenenalter ist zwar klar wie Wasser, fest wie Fels, wird aber dennoch weiterhin gern geleugnet. Bei aller Fakten- und Quellentreue überwältigt vermutlich deshalb passagenweise die Mission den Text, der im Übrigen durchaus ein wissenschaftliches Lektorat verdient hätte. Als passionierter Sammler von Beweisen und Argumenten trägt Sven Fuchs begrüßenswert dazu bei, den Schutz von Kindern vor Gewalt als globales, politisches Desiderat zu stärken.

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