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Wilder Denker. Clemens Setz lehrt im Sommersemester als Berliner Literaturpreisträger am Szondi-Institut der FU.

© imago/Gerhard Leber

Erzählungen von Clemens Setz: Auberginen gegen die Paranoia

„Der Trost runder Dinge“: In seinen unheimlichen Erzählungen kombiniert Clemens Setz einen bösen Blick mit fulminanter Freundlichkeit.

Trostbedürftig sind sie alle, die Menschen, von denen Clemens Setz erzählt. Das Leben setzt ihnen zu, doch sie finden bizarre Wege, mit ihren Ängsten und Versehrungen umzugehen. Eine Frau, deren schwerbehinderter Sohn keine Regung zeigt, bestellt sich Männer nach Hause. Sie führt sie in sein Zimmer, dort sollen sie mit ihr schlafen. Die Callboys sträuben sich. Also geht es in die Küche, sie reden und essen. Im entscheidenden Moment sollen sie zurück ins Zimmer. Am Ende begreift man, worum es ihr geht: weder ums Reden noch um den Sex, sondern um die Weigerung der Männer, unter den Augen des Sohnes mit ihr zu schlafen. „Klar bekommt der was mit!“: Das ist der Satz, auf den sie scharf ist. Denn er schreibt ihrem Sohn Wahrnehmungsfähigkeit und Bewusstsein zu.

Ein Mann leidet unter Panikattacken. Er wünscht sich sehnlichst, seine beiden Söhne mögen begreifen, wie schrecklich sich das anfühlt. Der ältere schlägt nach der Mutter, die sich von ihm getrennt hat: „Seine Seele war ein heiteres, schnurgerades Ding, wie eine Leiter am Obstbaum.“ Beim jüngeren aber hofft er insgeheim, dass er eines Tages ebenfalls Angststörungen entwickelt – nicht zuletzt, damit er ihn trösten kann.

Gleichermaßen real wie surreal

Angst, Paranoia, Einsamkeit und Abscheu überfallen die Figuren aus meist ohnehin verhangenem Himmel. Manche helfen sich mit Mitteln der Beschwichtigung, andere mit Übersteigerung. Michael Zweigl, der Vater mit den Panikattacken, kann sich durch „runde Sachen“ beruhigen, durch Auberginen, Tomaten, Obst. Manchmal hilft ihm auch der Gedanke an „menschenleere Städte in der Zukunft, bewohnt von Tieren, die noch eine Zeitlang mit unseren bizarren Artefakten weiterspielen“. Oder er stopft seine Sätze mit Wörtern voll: „Trink ich dann halt vielleicht am besten fürs Erste ein wenig Wasser.“

In „Südliches Lazarettfeld“, der ersten von 20 Geschichten, bricht ein Schriftsteller zu einem Literaturfestival nach Kanada auf. Er hat keine Lust, aber er braucht das Geld. Auf dem Flughafen sieht sein Spiegelbild aus, als ob er sich in ein „lebendes Ersatzbuch“ verwandelt hätte. Um seine „Abscheu“ zu überwinden, steigert er sie ins „Irreale“. Vielleicht ist also alles nur ausgedacht? Dass der Flug storniert wird, dass er zurückkehrt in seine Wohnung, dass dort überall „fremde Gestalten“ lagern und seine Freundin so glücklich aussieht wie nie. Die Globalisierungsgeschichte wirkt gleichermaßen real wie surreal, als wäre der Schriftsteller in der Endlosschleife des Transits stecken geblieben, irgendwo zwischen Realität und Fiktion. Die Orgie der Hilfsbereitschaft, die seine Freundin offenbar feiert, war nicht für seine Augen bestimmt. „Aber immerhin verstand ich, dass das hier, dieses mir so vollends unbegreifliche Lazarett in unserer Wohnung, die reale Welt war.“

Clemens Setz, mit dem diesjährigen Berliner Literaturpreis der Stiftung Preußische Seehandlung ausgezeichnet, biegt mitunter unbemerkt vom Weg ab, in surrealistische, futuristische, imaginäre Szenerien. Das mag daran liegen, dass er Synästhetiker ist. Aber es ist auch eine Reaktion darauf, dass der Gegenwartsmensch die Welt fast nur noch vermittelt durch Bildschirmoberflächen wahrnimmt. Was das bedeutet, hat Hartmut Rosa in „Resonanz“ soziologisch beschrieben.

„Die Katze wohnt im Lalande’schen Himmel“, die längste und im Stil W. G. Sebalds mit Fotos ausgestattete Geschichte, erzählt von einem elsässischen Soldaten im Ersten Weltkrieg. Sie handelt nicht zuletzt von der optischen und semantischen Deutungsnotwendigkeit von Sternbildern. Wer im Himmel über sich ein grausiges Sternbild zu entdecken meint, dem bleibt nichts anderes übrig, als auf die andere Halbkugel zu ziehen. „Dort hat Gott, so versichern die Astronomen, ganz andere Sterne aufgehängt.“

Setz will seine Figuren heimlich retten

Wie sehr unsere Wahrnehmung vom Sprachmaterial geprägt ist, illustriert „Spam“. Wir folgen seitenlang einem jener Texte, die uns normalerweise als computergenerierte, durch ein Übersetzungsprogramm gejagte E-Mails erreichen, die Geld für vermeintlich reale Menschen fordern. Eine gewisse Sara Martingal schreibt über ihren Sohn Daniel, er studiere Rechtswissenschaften, und behauptet, der Adressat sei dessen Vater: „er ist Ihre Dein Kind auch“. Man lacht, wenn es heißt: „Ich werde erlebt, dass er als Doktortitel heimkehrt zu mir in die winzige Wohnung (...), Gipfelkreuz aller Biografie“. Allerdings gewöhnt man sich so sehr an den Sprachduktus und an die Notwendigkeit des inneren Übersetzens, dass man die folgenden Geschichten nicht normal lesen kann. Sie stolpern gewissermaßen, weil man die nun richtige Syntax und Wortwahl ständig innerlich korrigiert. Ein verblüffender Effekt – ähnlich wie der optische, mit einem Foto dokumentierte Effekt, dass man einen Entenschnabel nie mehr ohne die Ähnlichkeit zu einem Hundekopf sehen kann, sobald man sie einmal entdeckt hat.

„Der Trost runder Dinge“ greift seltener auf literarische Anspielungen zurück als „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“, der Erzählungsband, für den Clemens Setz 2011 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Der 1982 geborene Österreicher, dessen Romane, von „Die Frequenzen“ über „Indigo“ bis zu „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, einen ebenso exzentrischen wie liebevollen Realismus der Versehrtheit pflegen, vertraut seiner eigenen Weltsicht. Dunkle und dystopische Prosa liegt bei jüngeren Autoren im Trend. Was Clemens Setz auszeichnet, ist die Kombination der bis in die Romantik zurückreichenden Tradition des bösen Blicks mit einer fulminanten Freundlichkeit. Dieser Schriftsteller will seine Figuren heimlich retten – und er gibt ihnen dafür die verrücktesten Mittel an die Hand.

Clemens Setz: Der Trost runder Dinge. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 316 Seiten, 24 €.

Meike Feßmann

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