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André Heller in seinem Anima-Garten bei Marrakesch.

© Daniela David/dpa

Erzählungen von André Heller: Draußen tobt der Proletenhurrikan

Kellner, Käuze, Kinder, Künstler und kakanische Melancholie: André Hellers stimmungsvoller Erzählungsband „Zum Weinen schön, zum Lachen bitter“

Was tun, wenn ein bekannter Künstler, der als Opernregisseur, Filmemacher, Chansonnier, Zirkusgründer, Impresario und Gartenschöpfer reüssiert, auch noch allerliebste Geschichten schreiben kann? Man muss es neidlos anerkennen.

Neben allem, was André Heller sonst noch ist, ist er als Schriftsteller vor allem eins: ein glänzender Stilist. Sein Erzählungsband „Zum Weinen schön, zum Lachen bitter“, der Texte aus einigen Jahrzehnten sammelt, ist ein Lesevergnügen.

Die Mystifizierung der Kindheit geht weiter

Gerade die anekdotenhafte Kürze mancher von Kellnern, Käuzen, Anwältinnen, Händen oder Lipizanern handelnden Miniaturen erdet Hellers mitunter etwas zu parfümiert in seliger kakanischer Melancholie schwelgenden Stil. Wie in dem tollen Roman „Das Buch vom Süden“ (2016) und in der vergangenes Jahr erst fürs Kino verfilmten ErzählungWie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ (2008) ist der biografische Einschlag, der Bezug zu Hellers Kindheitswelt nie weit.

Heller, 1947 geboren und wohnhaft in Wien, am Gardasee und in Marrakesch, stammt aus einer zum Katholizismus konvertierten jüdischen Familie von Süßwarenfabrikanten. Diese großbürgerliche Kinderstube, in der auch Joseph Roth verkehrte -  samt Jesuiteninternat, verehrter Frau Mama und Vatertyrannen - hat er über die Jahre mit einem Gespinst poetischer Überhöhungen überzogen. Die köstliche Episode „Der erste Mai“ fügt sich in diese Mystifizierung.

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Dass der Arbeiterkampftag gekommen ist, erkennt der jugendliche Erzähler zuverlässig daran, dass die Kinderfrau ihm die nach Naphthalin riechende Lederhose herauslegt. Der Vater hat den ersten Mai als Ablenkung zum Sommerbeginn ausgerufen.

Die Familie verbringt ihn bei verdunkelten Fenstern, auf dass ja kein Schimmer der vorbei ziehenden Kommunisten und Sozialisten hereindringe. Deren Blaskapellen bekämpft der Vater mit dem Abspielen von Verdi-Ouvertüren, Harry-James-Platten und Couplet-Gesang.

Draußen die Internationale, drinnen lustige Lieder

„Während draußen – bei von Vater unabhängig vom tatsächlichen Wetter mit der Begründung ,Petrus ist keine Rothaut‘ als ,Proletenhurrikan‘ bezeichnetem Wetter – Genossinnen und Genossen die Internationale anstimmten, sangen wir: ,Schau ich weg von dem Fleck, ist der Überzieher weg.‘“ Mittags gelten die Maiaufmärsche als besiegt, Eierlikör fließt, die Wellensittiche Tristan und Isolde dürfen in der Bibliothek herumfliegen und Vater, der „exzentrische Reaktionär“, spricht: „Wir wollen zueinander ehrlich sein, lasst uns also schweigen“.

[André Heller: Zum Weinen schön, zum Lachen bitter. Erzählungen. Zsolnay Verlag, Wien 2020, 240 S., 23 €]

Ein typisches Heller-Bonmot. Zum abgründigen Witz gesellt sich unsentimentales Sentiment und die Gabe, Missverständnisse und Tragödien des Menschenlebens in magisch schimmernde Sätze zu bannen. So wie in der Episode „Dem Hitler sein Narr“, in der ein New Yorker Berber namens Shlomo Herzmansky von seinem wundersamen Überleben im KZ erzählt.

Die Zufallsbegegnung auf der Straße leitet Heller so ein: „Es war einer jener seltenen Augenblicke, in denen man alles für möglich hält und selbst die Nachricht von der Abschaffung des Todes einen nicht wirklich erstaunen könnte.“ Staunen und Staunen machen: André Heller weiß, wie das geht.

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