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100 Jahre nach der Schlacht bei Lódz. Eine alte Brücke bei Chelmno. Der Berliner Fotograf Eric Pawlitzky hat „Und alles ist Weg“ festgehalten, zusammen mit anderen Orten in Polen, die von den Verwüstungen im Ersten Weltkrieg so gut wie nichts mehr ahnen lassen. „Ich produziere Fotografien wie moderne Gedenksteine“, erklärt er. „Dennoch glaube ich nicht, dass meine Suche nach Schönheit in der Landschaft zu einer Verharmlosung des Krieges führt.“ Im Buch sind 24 Aufnahmen mit propagandistischen Kriegsbeschreibungen von damals und einem reflektierenden Vorwort vereint. Der deutsch-polnische Band ist über Pawlitzkys eigenen Verlag www.hör-bild.de zu beziehen (72 S., 27 €).

© Eric Pawlitzky

Erster Weltklrieg: „Die Verbündeten drängten zur Aggression“

Die Historikerin Annika Mombauer im Gespräch über deutschen Hochmut, die Julikrise des Jahres 1914 und die Lehren aus dem Ersten Weltkrieg.

Frau Mombauer, es gibt einen neuen Historikerstreit über die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Christopher Clark und Herfried Münkler sehen die Kriegsursache in einer gemeinsamen politischen Kultur der Nationen. Sie sprechen Deutschland und Österreich den „Hauptteil der Verantwortung“ zu. Was sind Ihre Belege?

Es gab diese gemeinsame politische Kultur, die einen Krieg erwartete und mitunter herbeisehnte. Da unterscheiden sich die deutschen Militärs nicht von denen in Russland oder Frankreich. Aber wenn man sich genau ansieht, was 1914 in der Julikrise geschieht, dann erkennt man, dass die Entscheidung, die Ermordung des österreichischen Thronfolgers als Anlass für einen Krieg zu nehmen, von den Verantwortlichen in Wien getroffen wird. Die Verbündeten in Berlin bestärken die Österreicher in dieser Haltung, drängen sie sogar zu mehr Aggression. Ohne diese Entscheidung zum Krieg wäre diese Krise wie alle anderen in den Jahren zuvor verlaufen. Man hätte sich irgendwie geeinigt. Aber im Juli 1914 wollte Wien keine diplomatische Lösung, es wollte die goldene Gelegenheit nutzen, jetzt endlich mit Serbien abzurechnen. Berlin versicherte, den Bündnispartner im Ernstfall bedingungslos zu unterstützen. Das war der berühmt-berüchtigte Blankoscheck. Ohne diesen wäre aus dem Attentat keine internationale Krise entstanden.

Aber damit war der Krieg doch noch nicht unabwendbar, oder?

Nein, die Übergabe des österreichischen Ultimatums an Serbien am 23. Juli veränderte die Situation. Die Bedingungen des Ultimatums waren für Serbien unannehmbar, genau deshalb waren sie so formuliert worden. Unter anderem hätte Serbien seine Souveränität aufgeben und österreichische Ermittler ins Land lassen müssen. Nach dem Ultimatum werden dann auch in anderen Hauptstädten Entscheidungen getroffen, die die Krise weiter eskalieren lassen. Damit gibt es auch eine gemeinsame Verantwortung. Die Vorstellung, es gäbe auf der einen Seite Helden und auf der anderen Bösewichter, ist falsch. Nur, dass es diese Krise gab, zu der die anderen Akteure sich dann verhalten mussten, geht klar auf das Konto von Österreich und Deutschland.

Haben Österreich und Deutschland den Krieg nicht nur ausgelöst, sondern auch – wie Fritz Fischer 1961 in seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“ behauptete – langfristig vorbereitet?

Natürlich lassen sich viele Dokumente finden, in denen schon vor 1914 in Krisensituationen ein Krieg verlangt wird. Inwieweit das nur Rhetorik war, lässt sich im Nachhinein nur schwer sagen. Fritz Fischers These, dass der Krieg im Dezember 1912 geplant und dann um 18 Monate vertagt wurde, erwies sich so überspitzt als nicht haltbar. Aber deutsche Militärs wie der Generalstabschef Helmuth von Moltke forderten wiederholt den Krieg, da gibt es seine bekannten Zitate „Jetzt oder nie“ und „Je eher, desto besser“. Die Geisteshaltung preußischer Offiziere zeigt sich auch im Ausspruch des Kriegsministers Erich von Falkenhayn am 31. Juli 1914: „Selbst wenn wir darüber zugrunde gehen – schön war es doch.“ Der österreichische Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf sprach sich allein 1913 23-mal für einen Krieg gegen Serbien aus. Dieser Krieg war für ihn quasi ein Allheilmittel.

Herfried Münkler weist darauf hin, dass Deutschland weniger Soldaten als Frankreich hatte und schlecht auf den Krieg vorbereitet war, es gab zum Beispiel zu wenig Munition. Passt das zu einem Kriegstreiber?

Man darf nicht voraussetzen, dass der Weg in den Krieg völlig rational ablief. Da war jede Menge Wunschdenken im Spiel. In der Julikrise sagt Moltke: Wir sind dem Feind zahlenmäßig unterlegen, aber wir haben den besseren Charakter und deshalb die größere Kampfkraft. Wir werden siegen, allein deshalb, weil wir Deutsche sind. Als sich dann abzeichnet, dass England an der Seite Frankreichs in den Krieg eintreten wird, höhnt er: Lasst sie nur kommen, diese 150 000 Mann, mit denen werden wir auch noch fertig. Ein Hochmut, der auch daran zu erkennen ist, dass aus dem russisch-japanischen Krieg von 1905/06 keine Lehren gezogen wurden. Alle waren schockiert, dass, wie es damals hieß, eine „asiatische Rasse“ gegen eine europäische Großmacht gewonnen hatte. Diese Niederlage hatte mit der japanischen Bewaffnung und Taktik zu tun, aber in Berlin schob man sie darauf, dass die Russen doch bloß „Slawen“ seien. Und man drängte auch aus Angst vor der Zukunft auf den Krieg.

"Diesen großen Krieg, wie wir ihn heute kennen, hat damals niemand gewollt"

Annika Mombauer lehrt Geschichte an der Open University in Milton Keynes, Großbritannien. Zuletzt veröffentlichte sie bei C.H. Beck ein Buch über „Die Julikrise“ 1914.
Annika Mombauer lehrt Geschichte an der Open University in Milton Keynes, Großbritannien. Zuletzt veröffentlichte sie bei C.H. Beck ein Buch über „Die Julikrise“ 1914.

© Lance Bellers/C.H. Beck

Warum drängten die deutschen Generäle so zum Krieg?

Ihre Angst war, dass sie ihn später nicht mehr erfolgreich würden führen können. Seit 1913 galt für das deutsche Militär ein einziger Aufmarschplan: der Schlieffen-Plan. Ich würde ihn eher Moltke-Plan nennen, weil er durch den neuen Generalstabschef entscheidend verändert worden war. Der Plan konnte nur funktionieren, wenn Russland so langsam mit seinem Aufmarsch sein würde, dass Deutschland in dieser Zeit Frankreich besiegen könnte. Russland wollte seine Armee vergrößern, deshalb waren die deutschen Generäle überzeugt: Schon 1916/17 können wir einen Krieg mit diesem Gegner nicht mehr gewinnen. Sie glaubten, in einer Verteidigungsposition zu sein, den Krieg sahen sie als Präventivkrieg. Eines muss man ihnen zugutehalten: Sie konnten sich nicht vorstellen, dass der Krieg vier Jahre dauern und Millionen Menschenleben fordern würde. Diesen großen Krieg, wie wir ihn heute kennen, hat damals niemand gewollt.

Was ist so falsch am Bild des britischen Politikers Lloyd George von 1930, Europa sei in den Krieg „hineingeschlittert“?

Das ist die versöhnliche Interpretation der dreißiger Jahre. Damals wollte Großbritannien Deutschland als Verbündeten gewinnen, als Bollwerk gegen die Sowjetunion. Aussöhnung war wichtiger, als Deutschland weiterhin als ehemaligen Kriegsfeind zu bestrafen. Falsch am Bild des „Hereinschlitterns“ ist, dass es die Entscheidungen ignoriert, die mit voller Absicht getroffen wurden. Der Krieg war kein Unfall.

Christopher Clark hat mit seinem Bestseller „Schlafwandler“ an Lloyd Georges Metapher angeknüpft. Demnach fühlten sich die Akteure wie fremdgesteuert, weil sie in einer ungemein komplexen Situation immer sehr schnell reagieren mussten. Was spricht gegen diese Darstellung?

Viele Akteure fühlten sich ohnmächtig, und letztendlich ist der Gaul dann auch ein bisschen mit den Leuten durchgegangen. Es gab noch ganz am Ende in Deutschland Stimmen, die versuchten, den Krieg abzuwenden. Dafür war es schon zu spät. Aber „Schlafwandeln“ kann man das nicht nennen, was in Wien sehr schnell beschlossen wurde: endlich Krieg mit Serbien zu führen und ein Ultimatum zu formulieren, das der Gegner nicht akzeptieren kann. Das war kaltblütig kalkuliert. Als Österreich-Ungarn dann am 28. Juli Serbien den Krieg erklärt, bombardiert es sofort Belgrad. Das geschieht absichtlich, um zu verhindern, dass noch diplomatische Interventionen, etwa aus Großbritannien, zustande kommen könnten. Der Balkankrieg wurde bewusst vom Zaun gebrochen. Die Akteure folgten ihrem Kalkül.

Russland hat als erster Staat die Generalmobilmachung ausgerufen, zu einem Zeitpunkt, als in Deutschland noch nicht einmal der Zustand der Kriegsgefahr herrschte. Wie groß ist Russlands Kriegsschuld?

Russland wollte sich nicht erneut, wie in früheren Balkankrisen, von Österreich demütigen lassen. Während der Julikrise wurde Zar Nikolaus II. in Petersburg vom französischen Präsidenten Poincaré besucht. Was bei diesem Staatsbesuch genau besprochen wurde, ist unbekannt. Aber versichert wurde, dass Russland und Frankreich mit einer gemeinsamen Front auf das Vorgehen von Österreich und Deutschland gegen Serbien reagieren würden. Die Sache mit der Mobilmachung ist komplizierter. In Berlin hatte man sich bereits entschieden, die Teilmobilmachung auszusprechen. Denn der Schlieffen-/Moltke-Plan verlangte, dass die deutschen Truppen noch vor einer offiziellen Kriegserklärung in Luxemburg einmarschieren sollten. Man war unter Zeitdruck, und Moltke drängte wiederholt auf Mobilmachung. Doch Reichskanzler Bethmann Hollweg sagte: Wir warten, so lange wir können, denn wir wollen, dass die Russen sich ins Unrecht setzen und zuerst mobil machen. Die deutsche Mobilmachung war für den 31. Juli, 12 Uhr, beschlossen. Aber die Russen kamen den Deutschen zu deren großer Erleichterung zuvor. Da gab es Händeschütteln auf den Gängen im Generalstab, man gratulierte sich zu diesem Erfolg. So konnte sich Deutschland als angegriffene Nation präsentieren – eine Täuschung, die bis heute andauert.

Kaiser Wilhelm II. trat noch für einen Ausgleich ein, als aus Belgrad die Antwort auf das österreichische Ultimatum kam. Später sagte er, ihm sei das „Schwert in die Hand gedrückt“ worden. Handelt so ein Freund des Krieges?

Nein. Wilhelm war eher ein Umfaller. Er hielt kriegslüsterne Reden, denen nichts folgte, und sprach ebenso viel vom Frieden, ebenfalls ohne Konsequenzen. Vorwerfen muss man ihm aber, dass er ein System geschaffen hat, in dem das Militär ohne Einschränkung Kriege planen und die Politik in einer Weise beeinflussen konnte, wie es in Frankreich oder Großbritannien nicht möglich war. Als Wilhelm die serbische Antwort auf das Ultimatum las, in der acht von zehn Forderungen angenommen wurden, sagte er: Damit entfällt jeder Kriegsgrund. Die Generäle und Politiker in seiner Umgebung waren entsetzt. Wilhelm empfahl Wien, nur Belgrad zu besetzen und als „Faustpfand“ für die Erfüllung der Forderung zu benutzen. Allerdings hintertrieb Bethmann Hollweg Wilhelms Initiative und leitete die Empfehlung nur verzögert und nicht im vollen Wortlaut nach Österreich weiter. Im Laufe des Krieges wurde Wilhelm dann mehr und mehr zum Schattenkaiser. Die Politik dankte ab, es regierte der Generalstab mit Ludendorff und Hindenburg.

Angela Merkel hat gesagt, aus dem Ersten Weltkrieg könne man lernen, dass Politiker immer miteinander reden sollten. Sie greife auch in der Ukraine-Krise zum Telefon, um Wladimir Putin anzurufen – auch wenn es nicht angenehm sei. Hat sie recht?

Das ist auf jeden Fall eine Lehre, die man aus der Julikrise ziehen kann. Genauso wichtig ist, dass das Militär unter politischer Kontrolle stehen muss. Das war vor hundert Jahren nicht so, auch deshalb ist dieser Krieg immer brutaler geworden. 1914 hatte Europa seit 40 Jahren keinen Krieg zwischen den Großmächten erlebt, da kam das Gefühl auf: Dieser Frieden wird noch ewig währen. Das ist heute ähnlich. Wir hatten seit 70 Jahren keinen Krieg unter den Großmächten und glauben, dass so ein Krieg heute unvorstellbar ist. Vielleicht sind wir uns etwas zu sicher. Aber der Hauptunterschied ist, dass man damals die Schrecken einer diplomatischen Niederlage höher bewertete als die Realität eines großen Krieges. Das sehen wir heute sicher anders.

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