zum Hauptinhalt
Im Film „Will Deliquesce“ erforscht eine Gruppe von Menschen die Haut der anderen.

© Julie Favreau

Erotik in der Kunst: Eine große, alternative Kraft

Trotz oder gerade wegen Corona: Die Künstlerin Julie Favreau plädiert dafür, dass wir Intimität neu erlernen und zeigt ihre Filme in der Schwartzschen Villa.

Für eine kommunale Galerie im gutbürgerlichen Zentrum von Steglitz sind Julie Favreaus Videos ganz schön ungewöhnlich. Sowohl die Langsamkeit als auch die Erotik passen nicht so recht zum vormittäglichen Treiben rund um die Schwartzsche Villa.

In dem achtminütigen Film „Will Deliquesce“, der in dem Kulturhaus gezeigt wird, sehen Ausstellungsbesucher, wie sich junge, nackte Menschen gegenseitig mit kleinen Gegenständen berühren. Sie streicheln sich mit den Händen, aber auch mit Glasfingern, die sie zwischen ihre eigenen Finger geklemmt haben. Die Künstlerin Julie Favreau nennt es ein Kommunikationsritual.

Die gebürtige Kanadierin kam vor drei Jahren nach Berlin. Ihre Idee war es, Erotikfilme zu drehen und dabei auch zu ergründen, was Feminismus im 21. Jahrhundert bedeutet. Das brachte ihr ein Stipendium am Künstlerhaus Bethanien ein und in der Folge viele Kontakte in die Queer-, Trans- und Clubszene Berlins, zu den Tänzern, Pornodarstellern, Körperarbeitern der Stadt.

Erotik als Energiequelle

Die beiden Videos, die nun in der Schwartzschen Villa laufen, sind die ersten in einer größeren Serie, die Favreau plant. Die Erotik entfaltet sich darin als große alternative Kraft, als Energiequelle. Es kommt vor, dass gerade erfolgreiche, männliche Kuratoren, die schon alles gesehen haben, was die Kunst an Absurditäten und Frechheiten zu bieten hat, sich beim Anblick dieser ruhigen Szenen unbehaglich fühlen.

Mixed-Media-Installation von Julie Favreau. Die Objekte aus den Filmen sind hier noch einmal in anderer Form zu erleben.
Mixed-Media-Installation von Julie Favreau. Die Objekte aus den Filmen sind hier noch einmal in anderer Form zu erleben.

© Julie Favreau

Sie sind intim, langsam, fließend, ohne Höhepunkt und stehen für einen Paradigmenwechsel, der sich in der zeitgenössischen Kunst bereits vollzieht und in der Gesellschaft immerhin andeutet. Sie symbolisieren eine entschiedene Abkehr vom patriarchalen Prinzip, von Selbstoptimierung, Eindeutigkeit und Effizienz. Favreau ist überzeugt: „Es gibt jetzt, mitten in der Pandemie, ein kleines Zeitfenster, in dem wir einen radikal neuen Umgang mit der Welt vorschlagen können.“ Und sie ist bei Weitem nicht die einzige, die so denkt.

[Behalten Sie den Überblick über die Entwicklung in Ihrem Berliner Kiez durch unseren Tagesspiegel-Bezirksnewsletter. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de.]

In der internationalen Kunstszene geht es derzeit oft um das Thema Körper und Berührung. Zusätzlich haben Begriffe wie Fürsorge, Pflege und Langsamkeit Konjunktur. Das war schon vor Corona so. Als Beispiel: Die 11. Berlin Biennale, eine prestigeträchtige Großausstellung, die im Herbst, coronabedingt verschoben, ihre vierte und letzte Episode präsentiert, zielt dieses Mal weder auf Kunstbetriebsglamour noch auf quotenträchtige Events ab.

Stattdessen senden viele, weitgehend unbekannte indigene Künstler aus dem globalen Süden ihre Werke, werden Workshops statt klassischer Ausstellungen realisiert, wird auf Spanisch und in anderen Sprachen kommuniziert, nicht ausschließlich auf Englisch, wie in der Kunstwelt üblich. Die Vorstellung einer nicht-patriarchalen, dekolonialen, nicht auf Ausbeutung basierenden Welt, wird hier einfach schon mal gelebt, auch wenn sich in vielen Ländern aktuell genau das Gegenteil zeigt – sich rassistische, nationalistische und autoritäre Politik ausbreitet.

Der Körper als Kommunikationsinstrument

„Wir haben den Kontakt zur Natur und zur Spiritualität verloren“, sagt Julie Favreau, die in ihrer Heimat Kanada intensiver mit dem Wissen indigener Bevölkerungsgruppen konfrontiert war, als es hierzulande der Fall ist. Um diesen Kontakt wiederherzustellen, bezieht sie in ihre Körperexperimente auch unbelebte Objekte, Computertechnologie und künstliche Intelligenz mit ein. Und zu Letzterer – so Favreaus Vorschlag – kann man durchaus ein sinnliches Verhältnis aufbauen. Denn wer weiß schon, ob die künstliche Intelligenz von außen kommt, oder Teil von uns ist, ähnlich wie ein neues inneres Organ?

In ihrem Video „Will Deliquesce“ hält Julie Favreau Glasscheiben vor die sich streichelnde Menschengruppe. Das führt zu Verzerrungen und visuellen Irritationen, wie sie auch Computerprogramme herstellen können. Lichtstreifen knautschen die Ohren und zerren an den Lippen, verwischen den Schnurrbart eines Darstellers. In dem Film sind Körper, unbelebte Objekte und digitale Technik bereits in einem zärtlichen Tanz miteinander verbunden.

In Julie Favreaus Video „This Thing“ geht eine Frau auf Tuchfühlung mit einem undefinierbaren Objekt.
In Julie Favreaus Video „This Thing“ geht eine Frau auf Tuchfühlung mit einem undefinierbaren Objekt.

© Julie Favreau

Hätte man diesen Film vor Corona vielleicht noch als spekulatives Tanzexperiment gelesen, ist der Blick jetzt ein anderer. Viele haben während des Lockdown Körperlichkeit und Berührung vermisst, der einzige Körper im Raum war für eine Weile vielleicht der eigene, während man via digitaler Technik und künstlicher Intelligenz mit sich und anderen Kontakt zu finden suchte. Ein sinnliches Verhältnis zur digitalen Technik mag zwar immer noch ein schräger Gedanke sein, aber jeder kann sich jetzt vorstellen, wie es ist, wenn die Technik unseren Körper erweitert.

Achte auf das Ding

In Favreaus zweitem und neuesten Film, „This Thing“, folgt die Kamera einer Frau, die auf einer Wiese in Richtung eines Waldes geht. Weißes T-Shirt, weiße Haut, helle Haare, nackter Hintern, die Szenerie ist friedlich, Insekten summen. Schließlich taucht neben dem Kopf der Frau eine undefinierbare hautfarbene Form auf, die an eine Ohrmuschel oder an ein Geschlechtsteil erinnert.

[Schwartzsche Villa, Grunewaldstr. 55, Steglitz, bis 11. Oktober, Mo-Sa 10-18 Uhr, Eintritt frei. Am So 30. August präsentiert Julie Favreau ihr Buch „Bonds“, das im Rahmen der Ausstellung entstanden ist. Infos: kultur-steglitz-zehlendorf.de]

Es wird nicht ganz klar, was „das Ding“ von der Frau will, ob ob es ihr feindlich oder wohlgesonnen ist, oder ob die Frau es mit ihren Gedanken kontrollieren und beeinflussen kann. Favreau möchte mit ihrer Arbeit unsere Sinne aktivieren. Sie plädiert für eine menschliche Evolution, bei der wir unsere spirituelle Wahrnehmung ausbauen, auch wenn das in Zeiten von Corona gerade in weite Ferne gerückt zu sein scheint.

Inmitten der Pandemie kann auch Julie Favreau nicht weitermachen wie gehabt. Statt Choreografien mit anderen durchzuführen, konzentriert sie sich im Moment aufs Schreiben und auf das Experimentieren mit Objekten. Ihre neueste Arbeit hat sie mit sich selbst und ihrem Spiegelbild geplant.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false