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Jake Gyllenhaal in Venedig.

© dpa

Eröffnung der Filmfestspiele Venedig: Fels in der Lagune

Im Wettbewerb der Filmfestspiele Venedig dominieren Neulinge, und zur Eröffnung geht es mit dem Bergsteiger-Drama „Everest“ in sehr dünne Luft.

Schon lustig, dass ausgerechnet das Filmfest Venedig seit einigen Jahren im Grunde mit dem Empfang des Business-Magazins „Variety“ beginnt. Die Party der Amerikaner am Vorabend der Mostra hat sich zur inoffiziellen, legeren Eröffnungsgala des traditionell der Filmkunst verpflichteten Festivals gemausert. Das Event auf der Terrasse des Hotels Danieli unweit der Piazza San Marco bietet neben dem fantastischen Blick auf die Stadtkulisse einen ausgesprochen spacigen Abend, mit curaçaoblauen Bellinis, die trotz ihrer eisigen Farbe nach Pfirsich schmecken, und mit Fingerfood frei nach Science-Fiction-Blockbustern. Wobei die Speisekarte – Dystopia Salad, Cyberpunk Batteries, Replikantenbohnen, Orangenlachs à la Kubrick... – gehaltvoller klingt, als die Häppchen dann schmecken.

Egal, Kino ist die Kunst der Illusion. Auch versteht sich das Partydesign als Hommage an Regisseur Alfonso Cuarón, dessen Weltraumkammerspiel „Gravity“ das Festival 2013 eröffnete und der bei dieser 72. Ausgabe von Venedig als Jury-Präsident dabei ist. „Gravity“ konnte etliche Oscars einsammeln, Alejandro Inárritus Vorjahres-Eröffnungsfilm „Birdman“ gewann im Februar gar den Oscar als bester Film. Noch so ein Venedig-Paradox: Auch wenn das Filmgeschäft hier eine weit geringere Rolle spielt als in Cannes oder bei der Berlinale, gibt das Festival nach wie vor den Startschuss für die umsatzträchtige Herbst- und Wintersaison. Wer am Lido erfolgreich Weltpremiere feiert, gilt schnell als Kandidat für die aktuelle Award Season, mit den Globes und den Oscars als Höhepunkt.

Die meisten Einreichungen seien zum Weglaufen gewesen

Gleichzeitig ist und bleibt Venedig das Festival, in dem die Filmkultur sich ihrer selbst vergewissert, die eigenen Stärken und Schwächen zur Schau stellt. Man habe, so verriet Festivalchef Alberto Barbera, diesmal allein 178 italienische Filme gesichtet, 80 Prozent davon seien zum Weglaufen gewesen. Mutige Worte für den Chef eines von der italienischen Kulturpolitik immer wieder drangsalierten Festivals: Man stelle sich vor, Dieter Kosslick würde Ähnliches über die deutschen Einreichungen zur Berlinale sagen. Ein Shitstorm wäre ihm sicher.

Barbera hat dann doch vier italienische Wettbewerbsbeiträge programmiert, keine schlechte nationale Quote bei 21 Löwen-Anwärtern. Marco Bellocchio kommt mit „Sangue del mio sangue“ auf den Lido, einem Vampir-Historienfilm mit Alba Rohrwacher als Nonne. Der unbekannteste Italiener: Pierro Messina, der Juliette Binoche als Hauptdarstellerin für seinen Debütfilm „L’attesa“ gewinnen konnte. 14 der 21 Wettbewerbs-Regisseure waren vorher noch nie mit einer Produktion auf dem Festival vertreten – Venedig setzt nicht auf Stammgäste, sondern auf die Neugier.

Bergdrama "Everest" eröffnet in 3D

Die Konkurrenz ist hart wie eh und je. Nachdem das nächste Woche startende Toronto-Festival Venedig zunehmend die Filme wegschnappte und nun zusätzlich mit einem Arthouse-Wettbewerb punkten will, haben sich die beiden Festivalchefs zusammengesetzt und das Kriegsbeil offiziell begraben. Die Frage, wer wo welche Weltpremiere präsentiert, bleibt gleichwohl umkämpft: „Heutzutage entscheidet nicht ein Festivaldirektor darüber, von wo aus ein Film seinen Weg macht, sondern der Marketingchef,“ erläutert Barbera in der aktuellen „Variety“-Ausgabe, die außerdem sämtliche internationalen Festivals der nächsten Wochen auflistet. Es sind gut zwei Dutzend.

Ob sich die Serie der Oscar-prämierten Eröffnungsfilme mit Baltasar Kormákurs Bergdrama „Everest“ tatsächlich fortsetzen lässt? Einerseits hat das Imax-3-D-Spektakel (deutscher Filmstart: 17. September) das Zeug zur dritten Extremsport- Story in Folge: Nach „Gravity“ (wie überlebe ich ohne funktionstüchtiges Raumschiff im All?) und „Birdman“ (wie schaffe ich als abgehalfterter Superheld ein Comeback am Theater?) das ultimative Extrem-Ziel: Wie komme ich auf den höchsten Berg der Welt und lebend wieder herunter? Andererseits transzendiert der Film das eigene Genre weniger, als es Cuaróns und Inárritus Werken gelang.

„Everest“ rekonstruiert die tragischen Ereignisse vom 10. und 11. Mai 1996, als bei einer Gipfelbesteigung zweier kommerziell organisierter Gruppen 30 Kletterer in einen schweren Sturm gerieten, acht von ihnen starben am Berg. Das Ehrfurcht gebietende Felsmassiv mit seinem schwarzen Gestein, gleißendem Schnee, wackeligen Leitern über Gletscherspalten, mürben Halteseilen und einem den Aufstieg tödlich verzögernden Stau am Hilary Step sorgt für reichlich Schauwerte und Adrenalinschocks. Auch wenn die Leinwand-verkleinernde Wirkung von 3-D die Überwältigung in Grenzen hält, bekommt der Zuschauer doch eine Ahnung davon, wie die Luft in der „Todeszone“ rund um den 8848 Meter hohen Gipfel buchstäblich zu dünn zum Atmen ist.

„Everest“ setzt auf den Kontrast. Hier die Kletterer, die wie Zombies durch den Sturm taumeln – die Starbesetzung erkennt man eigentlich nur bei der Anreise im Tal: Jason Clarke und Jake Gyllenhaal als zunächst konkurrierende, dann kooperierende Bergführer, Josh Brolin als tougher Texaner, der in der Höhe erblindet und dem sämtliche Finger abfrieren. Dort die Gegenwelt der Normalos, der bangenden Ehefrauen und Camp-Leiterinnen (Keira Knightley, Robin Wright, Emily Watson). Und zwischen Himmelhöhe und irdischem Alltag die Frage des Journalisten Jon Krakauer, auf dessen Tatsachenbericht „In eisige Höhen“ der Film basiert: Warum? Warum tut ihr euch das an?

Filmkunst und Starrummel in Venedig vertragen sich bestens

Auch der Film selbst bleibt die Antwort schuldig und verschiebt zusätzlich den Akzent, weg vom mörderischen Geschäftssinn der Bergabenteuer-Unternehmen, wie Krakauers Buch ihn thematisiert, hin zur Solidarität der Kletterer, von denen einige nur deshalb sterben, weil sie Zurückbleibenden zu helfen versuchen. Zwar wird die Unverantwortlichkeit kommerzieller Everest-Besteigungen seit der Tragödie von 1996 öffentlich diskutiert, aber geändert hat sich nichts. Der Massentourismus im Himalaya fordert jährlich neue Todesopfer.

65 000 Dollar kostete der 1996er-Trip für jeden Teilnehmer, mit der Folge, dass die Führer möglichst viele Kunden hoch auf den Gipfel bringen wollen. Und wer seinen Lebenstraum für teures Geld verwirklichen will, der möchte seine Sauerstoffflasche nicht unbedingt an einen Sterbenden abgeben und auf den Gipfel verzichten. All diese Dilemmata spart der Film aus. Auch Reinhold Messner hat anlässlich der Weltpremiere die Geschäftemacherei mit dem Everest kritisiert. „Der wahre Konkurrent,“ heißt es im Film nur lapidar, „ist am Ende immer der Berg.“

Konkurrenz belebt das Geschäft? Die Filmkunst und der Starrummel, in Venedig vertragen sie sich bestens. Während Brolin, Gyllenhaal und Emily Watson zur Eröffnungsgala über den roten Teppich laufen, startet für die Medienvertreter das Wettbewerbsprogramm mit „Beasts of No Nation“. Es geht um einen nigerianischen Kindersoldaten. Willkommen in der Hölle der Realität.

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